Before last Christmas – Als wir alle noch einen an der Waffel hatten und hoffentlich bald wieder haben werden

Überschriften können lang und kompliziert sein, so wie die aktuelle Lage bei unserem Verein aus der goldenen Stadt am Rhein. Da ich für verbale Schnellschüsse im Internet viel zu langsam bin, beschäftige ich mich heute lieber mit dem, was ich hoffe, besser beurteilen zu können. Und mit „Hoffe“ meine ich nicht das Maskottchen aus dem Vorort von Sinsheim, sondern genau eben jenen Ort.

Hoffenheim zählt nicht wirklich zu den traditionellen Fußball-Standorten in Deutschland. Dennoch verbinde ich mit dem Stadion an der Autobahnausfahrt sehr viele Erinnerungen. Nein, wie bei Mainz 05 auch, war es nicht immer schön in der Rhein-Neckar-Arena, aber in den wenigen Jahren ihres Bestehens haben sich da Momente in meinem Kopf festgesetzt, die bleiben für immer.

Zum Beispiel werde ich den heutigen 23. Dezember immer mit „Last Christmas“ verbinden. Das Spiel, ich weiß jetzt gerade gar nicht mehr genau wie es ausgegangen ist, plätscherte dahin und der Gästeblock stimmte plötzlich den Klassiker von „Wham!“ an. Smartphones wurden hochgereckt, nicht um Bilder zu machen, sondern um dem Gesang einen passenden visuellen Rahmen zu geben. Es entstand eine ganz besondere, besinnliche Stimmung, die sicherlich viele der Auswärtsfahrer*innen mit zurück nach Mainz in die Weihnachtsfeiertage nahmen.

„Last Christmas“ 2018 in Hoffenheim

Ein paar Jahre zuvor, es war Fastnachtfreitag, auch wieder ein relativ unspektakuläres Unentschieden – denn ich bilde mir gerade ein, dass wir vor zwei Jahren in Hoffenheim auch einen Punkt geholt haben… Jedenfalls ging es an diesem Abend statt zu „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“, wie es damals noch hieß und hoffentlich 2022 wieder heißen darf, ebenfalls nach Sinsheim – natürlich verkleidet – als Scheichs! Das war ein gelungener subtiler Protest gegen das Mäzenatentum des Scheichs von Sinsheim. Dennoch gab es wegen der Kostümierung wenig Probleme mit den Ordnern beim Einlass. Wir konnten Fastnachtslieder singen und es war eine grandiose Auswärtsfahrt und wir konnten die höchsten Mainzer Feiertage danach, was den Verein angeht, sorgenfrei zelebrieren.

Blicken wir aus Fußballfan-Sicht auf das Jahr 2020 zurück, dann springt mir der Gästeblock in Hoffenheim erneut ins Auge. Beim Gastspiel des FC Bayern wurden beleidigende Plakate gegen den Scheich gezeigt. Es kam zu einer Spielunterbrechung und nach Wiederaufnahme des Spiels kickten sich die Spieler der TSG und der Bayern den Ball nur noch gegenseitig zu – hauptsächlich wegen des eindeutigen Zwischenstands zugunsten der Bayern – aber diese günstige Gelegenheit ein ach so eindeutiges Zeichen als Protest gegen das Verhalten der Fans zu zeigen ließ man sich nicht nehmen. Es ging tatsächlich bei so manchen Multiplikatoren als solches durch . Nach Spielschluss sah man die Vorstände beider Vereine gemeinsam auf dem Platz mit den Spielern beider Mannschaften innig grimmig vor dem Gästeblock stehen.

Fastnacht-Freitag 2012 in Hoffenheim

Dieses Bild sagt im Nachhinein so viel mehr aus, als das ganze Geistespielszenario, das wenige Wochen später aufgrund der Pandemie seinen Lauf nahm. Wir, die Spieler und Offiziellen der Bundesliga-Vereine, gegen Euch, die Fans. Damals wurde visuell belegt, dass Zuschauer aus Sicht der Profis nur Beiwerk sind, die im ungünstigsten Fall nur stören, im besten Fall ihr Geld für das Ticket und die Fanartikel zahlen und ihre Verbundenheit mit dem Club durch traditionelle Gesänge und beeindruckende Choreos kundtun, mit denen es sich wunderbar bei Sponsoren werben lässt.

Es hätte Corona gar nicht gebraucht, um diese Spaltung im Vorfrühling 2020 zu zeigen. Allerdings haben die Pandemie-Monate danach für mich für eine interessante Entwicklung gesorgt.

Reflexartig wurden Änderungen im Profifußball von allen Beteiligten versprochen. Herausgekommen ist dabei überhaupt nichts. Die Fans wurden wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Der Großteil der Clubs möchte gar keine Veränderungen. Kleine Vereine wie Mainz 05, die für eine Neuverteilung der TV-Gelder standen, wurden isoliert und praktisch öffentlich gemobbt. Dass sich da unser Verein quergestellt hat, wurde in den letzten Monaten gar nicht wirklich gewürdigt – viel zu schnell hat sich das Karussell an Ereignissen rund um den Bruchweg gedreht und ein Geisterspiel jagte das nächste Geisterspiel.

Ein Teil der im Internet aktiven Fußballfans hat sich mit Geisterspielen arrangiert – zumindest der Teil, der permanent seine Emotionen und Meinungen kundtun muss. Er beschäftigt sich tagaus tagein wieder mit dem eigenen Verein und dem Profifußball an sich. Es ist halt Pandemie, das eigene Land ist ein Risikogebiet, viele Branchen liegen brach, Kurzarbeit ist oft der Standard, Homeschooling ist angesagt, die Krankenhäuser füllen sich, das Personal dort ist vollkommen überlastet und es wird wie immer über das letzte oder das nächste Spiel im Netz debattiert – so wie in einer Parallelwelt, die man selbst gerne den Macher*innen in den Clubs vorwirft.

Interessanterweise besteht dieser Teil nach meinem Empfinden hauptsächlich aus Fans, die vor der Pandemie nicht unbedingt auswärts mitgefahren sind, sprich die solche Fahrten nach Hoffenheim wahrscheinlich nur vom heimischen TV-Gerät her kennen und auch jetzt, wenn die Videos im Netz kursieren wieder kräftig Likes verteilen. Für diese Fans hat sich im Grunde genommen zumindest bei Auswärtsspielen nicht wirklich etwas verändert. Man schaltet kurz vor Spielbeginn die Glotze an, kotzt sich bereits während das Spiel läuft 90 plus 3 Minuten über das Spielgeschehen im Internet aus und widmet sich den Rest des Abends dann der Analyse oder einem anderen Hobby.

Sportlich gesehen läuft es bei Mainz 05 seit Beginn der Geisterspiele mehr schlecht als recht. Das ist ein gefundenes Fressen für die Internet-Fans bei Twitter und Facebook. Da spätestens seit November ohnehin alles was Spaß macht, verboten ist, lässt sich wunderbar von zu Hause aus dozieren, dass Mainz 05 stirbt, alle rauszuwerfen sind und sich die Spieler tatsächlich noch im Streik befänden. Ich frage mich dabei eigentlich nur, ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht?

Mainz 05 spielt immer noch in der 1. Liga und steigt vielleicht im nächsten Jahr ab. Es gab schon andere Clubs, denen das passiert ist. Klar ist das eine suboptimale Aussicht, gerade auch weil Rouven Schröder hingeworfen hat. Aber wer sind wir? Und welche Messlatte legen wir an den Tag, wenn Brauseclaubs, Sinsheim-Scheichs und Konsorten immer mehr das Bild der Liga prägen? Eine Dauerkarte für Nullfünf in der 1. Liga? Und wie ergeht es einem Club auf Augenhöhe wie Freiburg? Der war auch schon zwischenzeitlich mal abgestiegen – und hat noch nicht mal Christian Streich gestrichen. Von Vereinen wie Darmstadt, Düsseldorf, Bielefeld mal ganz zu schweigen, die sogar bis in die 3. oder 4. Liga durchgereicht wurden und bekanntlich auch noch am Leben sind.

Mal ganz ehrlich, was hatte ich persönlich eigentlich davon, dass Mainz 05 2009 aus der 2. Liga aufgestiegen ist – außer einem dicken Kopp am nächsten Morgen vielleicht? Ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern… Erstliga-Fan Christoph? Klar, es ging plötzlich wieder gegen die Bayern und Dortmund und ja, die Terminierung der Spiele war eindeutig angenehmer. Dennoch fuhren immer weniger auswärts mit in den letzten Jahren – vor einem Jahr nach Bremen noch zirka 200 Mädels und Jungs – waren wir da schon scheintot? Dafür ging es aber im Block noch ganz schön lebendig ab beim gesungenen Ergebnisdienst à la „Nullfünf, nullfünf, nullfünf, nullfünf“.

Aber gut, nun vielleicht 2. Liga 2021: Ich kann mich noch an einen Montagabend im Dezember in Aachen erinnern – Dauerregen ohne Dach im Tivoli und ein drei zu null Auswärtssieg durch den Maskenmann. Damals gab es noch keine Fußballblogs, die sich mit  Mainz 05 beschäftigten, geschweige denn Podcasts. Es gab das Kigges-Forum und sonst recht wenig Austausch im Internet.

Viele User*innen des Forums kannte man persönlich und wir trafen uns im Stadion. Die Wortwahl nach vergeigten Spielen war sicherlich ähnlich wie heute im Netz – nur hat es halt damals nicht die halbe Welt mitbekommen. Nun werden viele sagen, so eine Zeit kommt nie wieder. Wirklich nicht?

Vor ein paar Tagen hatte ich so ein Gefühl, dass an der aktuellen Lage nicht alles schlecht ist: Die Supporters Mainz haben zur Mitgliederversammlung eingeladen – natürlich per Zoom, aber es trafen sich viele Mitglieder, die nicht mal unbedingt alle in Mainz saßen – sogar aus Uruguay wurde sich zugeschaltet. Eigentlich wäre es das Territorium der vielen Internet-Fans gewesen – aber da hätte man sich ja in die Augen schauen müssen – zumindest optional… Und Freitagabend? Da bin ich doch in der Kneipe, im Theater, im Restaurant, im Stadion…nicht. Jedenfalls war von diesen Fans niemand im virtuellen Raum anwesend – wieso auch? Bei Twitter und Facebook muss man noch nicht mal für die Mitgliedschaft zahlen, um seine Meinung hinauszuposaunen.

Wie bei jeder deutschen Vereinsmeierei war die Supporters-Tagesordnung der heilige Gral – aber die Inhalte haben mir das Gefühl gegeben, dass wir weiterhin auf dem richtigen Weg sind. Da wäre zum Beispiel die Gänsje-Aktion mit ihren beiden Teilen zu nennen, die sogar neben den Supporters noch mehrere andere Gruppen gemeinsam organisierten. Ferner möchten sich die Supporters mit dem Fanprojekt weiter vernetzen, um im Fanhaus einen Stammtisch zu etablieren. Sie sorgen in besseren Zeiten mit legendären Sonderzugfahrten für noch tollere Auswärtsfahrten und mussten in der Pandemie nun die finanziellen Rückabwicklung des geplanten Zugs zur alten Försterei durchziehen. Und es sind die Supporters, die sich in fanübergreifenden Bündnissen engagieren und wenigstens den Versuch unternehmen, etwas im Profifußball zu verändern – statt nur virtuell dauerzumotzen. Übrigens ist so eine Supporters-Mitgliedschaft auch möglich, wenn man kein Mainz 05-Mitglied ist, so wie es umgekehrt Voraussetzung ist, für die Mitgliedschaft in der Fanabteilung von Nullfünf, die übrigens in diesem Jahr auch sehr viele soziale Projekte auf den Weg gebracht hat. Und dann gäbe es auch noch die Mitgliedschaft im Förderverein des Fanprojekts, das im Sommer trotz Corona viele Sprechstunden zum Beispiel am Rheinufer für die jüngeren unter uns angeboten hat und jetzt auch virtuell für alle, die Gesprächsbedarf haben, da ist.

Auch jenseits der offiziellen Beteiligungsmöglichkeiten für Fans sind es die Fans des FSV, die diesen ziemlich lebhaft durch die Pandemie bringen. Der „Q-Block“ hängt wohl mit Duldung des Vereins Plakate an den Bruchweg, die zeigen, was wohl die große Mehrheit der Menschen außerhalb des Netzes denkt. Die „Chaos Boys“ gehen für Risikogruppen einkaufen und gründen die Initiative „Solidarisch für Mainz“. Es gibt weiterhin tolle Fanzines mit dem „Mate Mann“, der „Sektion Bummskick“ und der „Golden Times“. Auch das Team der „Blockbildung“ legt eine Sonderausgabe nach der anderen auf und liefert sie sogar noch gratis aus. Es wurde sogar ein Fanzine-Almanach produziert. Die „Flagrantia Moguntia“ sammelte mehr als 6.000 Euro, die ansonsten in Glühwein auf den Weihnachtsmärkten in Mainz und Rheinhessen geflossen wären. Sie hat damit mehr als 100 Wünsche von Kindern aus armen Verhältnissen erfüllt. Ferner hat sie mehr als vier Dutzend Care-Beutel für Wohnsitzlose unserer Stadt gepackt. Es ist anzunehmen, dass die „Meenzer Metzger“ auch wieder an Heiligabend bei der Pfarrer Landvogt Hilfe ehrenamtlich kochen, sofern das unter Pandemie-Bedingungen möglich ist. Wahrscheinlich habe ich ein paar ganz tolle Initiativen sogar vergessen aufzuzählen.

Fastnacht-Samstag 2018 in Hoffenheim

Diese ganzen Aktionen finden trotz oder wegen Corona statt bzw. werden während der Pandemie für die Zeit danach geplant. Sie haben eines gemeinsam: Durch die Existenz des Vereins Mainz 05 haben Menschen zusammengefunden, die etwas gemeinsames auf die Beine stellen wollen. Der Verein ist hier nicht gleichzusetzen mit den aktuell handelnden oder flüchtenden Personen innerhalb des Vereins – auch nicht mit einem „Heilsbringer“, der diesmal nicht aus dem Morgenland sondern aus Mallorca einfliegen könnte. Diese Personen kommen und gehen, genauso wie die Spieler. Von den Spielern mehr Identifikation zu verlangen ist natürlich in Ordnung. Aber wenn sie liefern, sieht man ihnen fast alles nach, und wenn es sportlich nicht klappt, hauen viele verbal auf sie drauf. Aber die Spieler sind, egal welche Leistung sie bringen, doch nicht das Herz des Vereins, das dafür sorgt, dass der Verein lebt. Der Verein lebt durch seine Fans und Mitglieder*innen.

Und dass es sportlich nicht so wirklich läuft… auch das hatten wir schon in Hoffenheim erlebt – natürlich an Fastnacht ein paar Monate vor dem „Last Christmas“ Auftritt im Kraichgau. Damals hatte der Verein in der Fastenzeit sogar sportlich noch die Kurve bekommen, damit wir an dem besagten 23. Dezember 2018 dort überhaupt erstklassig singen konnten. Hoffen wir das Beste für das nächste Jahr, gesundheitlich, sportlich aber auch menschlich – Mainz 05 wird niemals untergehn – weil wir immer einen an der Waffel ham!

“Thomas Tuchel” von Daniel Meuren und Tobias Schächter

Viele Fußballfans, die in den sozialen Netzwerken aktiv sind, tendieren gerne dazu die Vergangenheit hochleben zu lassen, gerade wenn es mit dem eigenen Verein bergab geht. Man könnte daher meinen, dass “Thomas Tuchel – die Biografie” der beiden Journalisten Daniel Meuren und Tobias Schächter aktuell dazu prädestiniert wäre, das Schwelgen in der Vergangenheit zu verstärken. 

Lesenswertes Buch "Thomas Tuchel - Die Biografie"
Lesenswertes Buch „Thomas Tuchel – Die Biografie“

Selbstverständlich war Thomas Tuchel ein Glücksfall für den FSV Mainz 05 – genauso wie es Jürgen Klopp war, auf den in diesem Buch ebenfalls an einigen Stellen ausführlich eingegangen wird. Schließlich folgte Tuchel indirekt auf Klopp in Mainz und direkt in Dortmund. Selbst als Trainer von Paris St. Germain und Liverpool begegneten sich beide bereits in der Champions League. Beide eint zudem der  Karrierestart als Bundesliga-Trainer bei unserem FSV.  

Die Vorzeichen beim Lesen dieses Buch standen folglich auch bei mir auf “Früher war alles besser”, doch ich wurde eines besseren belehrt. Natürlich geht es Mainz 05 derzeit tabellarisch schlecht und bei Thomas Tuchel denke ich in erster Linie an den famosen Bundesliga-Auftakt 2010 mit sieben Siegen in Folge. Bei Klopp denke ich natürlich erstmal an den ersten Bundesliga-Aufstieg überhaupt von Mainz 05. Ich denke umgekehrt bei ihm weniger an den Start in die Bundesliga-Saison 2005/06 mit fünf Niederlagen oder an den Abstieg mit ihm 2007. Dieses Alleinstellungsmerkmal hat er bis dato für sich alleine – das schaffte bisher weder Martin Schmidt, noch Sandro Schwarz oder Achim Beierlorzer; Kasper Hjulmand sowieso nicht, da er als einziger Bundesliga-Trainer von Mainz 05 gar nicht am letzten Spieltag auf der Bank saß. Und bei Tuchel denke ich eher nicht an das bittere Aus im Elfmeterschießen  in Medias, das in dem Buch ebenfalls ausführlich Erwähnung findet,  oder die Pleite im Viertelfinale des DFB-Pokals in Kiel – beides im Jahr 2011. 

Tuchel nach dem 34. Spieltag der Saison 2013/14 und seinem letzten Tag als Trainer bei Mainz 05.
Tuchel nach dem 34. Spieltag der Saison 2013/14 und seinem letzten Tag als Trainer bei Mainz 05.

Je mehr Kapitel ich aufsog, desto mehr zog mich dieses Buch, was Mainz 05 betrifft, wieder hinauf. Zum einen, weil so viele Weggefährten von Tuchel zu Mainzer Zeiten zu Worte kamen und ihre reflektierte Sicht auf den Trainer gerne zu Papier bringen ließen, zum anderen weil ich für mich ein klareres Bild malen konnte, wieso Tuchel 2014 seinen Job bei Mainz 05 an den Nagel hängte – so alles andere als spontan übrigens.  

Dass Mainz 05 mit dem Menschen Thomas Tuchel ab und an viel zu knabbern hatte, wird in dem Buch mehr als deutlich. Und so kommen auch Personen zu Wort, die nicht mit dem eigenen Namen in der Danksagung am Ende des Buchs stehen möchten. Für mich als Fan zeigt das Buch, dass es auch damals nicht die schöne heile Mainz 05-Welt gab. Wie so oft ist das alles keine Schwarz-Weiß-Malerei gewesen. Christian Heidel hat diesbezüglich da große Arbeit geleistet – aber auch Heidel war nicht der personalisierte Jesus vom Rhein, wie ihn viele Fans in der Nachbetrachtung vergöttern. 

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Post-Heidel-Strutz-Strukturen dem Verein tatsächlich gut tun. Ein Rouven Schröder steht heute unter viel größerer Beobachtung als es bei Heidel je der Fall war. Auch das kann ich aus dem Buch herauslesen. Ähnliches gilt natürlich für Jan Lehmann und in gewisser Weise auch für Stefan Hofmann – schließlich gibt es mittlerweile einen Aufsichtsrat beim Fußballsportverein.  

Ich habe durch das Buch den Eindruck gewonnen, dass zu dieser Zeit die damalige Konstellation einfach optimal war: Ein Christian Heidel, der in der Lage war, einen Thomas Tuchel so zu behandeln, dass dieser von 2009 bis 2014 für den Verein tatsächlich das Optimum herausholte, ohne dass Heidel sich vor irgendjemandem rechtfertigen musste. Aber ich merkte beim Lesen auch, wie wenig Lust bei Tuchel vorhanden war, sich auf den Verein mit seinen Menschen einzulassen – das kam noch stärker bei seinem Wirken in Dortmund zum Vorschein und da freue ich mich tatsächlich auf die nächste Zeit mit Jan-Moritz Lichte, dem ich es abnehme, sich mit dem Verein zu identifizieren und mit der Mannschaft das Ziel Klassenerhalt anzugehen. Und was die Fußballkompetenz von Lichte angeht, sehe ich da angenehme Parallelen zum perfekt portraitierten Thomas Tuchel, der leider selbst zum Buch nichts beitragen wollte.

Über das Buch:

  • Titel: Thomas Tuchel – Die Biografie
  • Autoren: Daniel Meuren, Tobias Schächter
  • Verlag: Die Werkstatt GmbH
  • Softcover-Buch: 19,90 € bzw. e-book: 14,99 €
  • 192Seiten
  • ISBN: 978-3730704660 (Print)
  • Erscheinungstermin: 16. April 2020

Bestellbar überall wo es Bücher gibt und online zum Beispiel bei „buch7“, dem sozialen Buchhandel. Durch den Kauf bei „buch7″ spendet das Unternehmen zwischen 0,70 € und 1,29 € – abhängig von der aktuellen Geschäftsentwicklung – an soziale Projekte.

Leben und leben lassen in der CSR-Blase

Fußballfans und Nachhaltigkeit passen dem Klischee nach nicht wirklich zusammen. Und im Profisport samt seinen daran beteiligten Unternehmen fristet das Thema „Corporate Social Responsibility“ kurz CSR immer noch ein Nischendasein. Dass unser Verein vor zehn Jahren Weitsicht bewies und dieses Thema auf seine Agenda gesetzt hat, ohne von außen durch die Gesellschaft, die Politik oder den Verband dazu gezwungen worden zu sein, rechne ich dem Verein sehr hoch an. Wir Menschen sind Gewohnheitstiere und sich aufraffen, plötzlich das gewohnte Verhalten zu ändern, fällt vielen von uns schwer, wie man beim Stichwort Mund-Nasen-Schutz gerade sehen kann.

Screenshot der Live-Übertragung auf YouTube der Podiumsdiskussion am gestrigen Abend im Stadion am Europakreisel

Mittlerweile hat wahrscheinlich jeder Nullfünf-affine Mensch schon etwas von der Mission Klimaverteidiger gehört – spätestens in den letzten Wochen, in denen der Verein auf seine „05ER Klimaverteidiger Woche“ in den verschiedensten Medien hinwies. Das Echo in den sozialen Netzwerken entsprach dem bereits oben erwähnten Klischee. Aufgrund der sportlichen Situation blubberten zahlreiche Internetheld*innen davon, dass sich der Verein lieber auf das „Kerngeschäft“ konzentrieren sollte. Zu diesen Leuten ist das Thema Klimawandel noch nicht vorgedrungen. Dass dieses Thema wichtiger als der momentane Tabellenstand oder der gesamte Fußball ist, hat sich in den Köpfen dieser Leute noch nicht festgesetzt.

Ob diese sehr ablehnende aber vollkommen vorhersagbare Haltung der Internettrolle dazu geführt hat, dass der Verein die Form einer Podiumsdiskussion als großen Abschluss gewählt hat, weiß ich nicht. Der vermeintlichen Sache an sich, das Thema Klimaschutz voranzutreiben, hat diese Form sicherlich nicht wirklich geholfen.

Dass es in Zeiten der Pandemie nicht möglich war, so eine Veranstaltung öffentlich durchzuführen, war spätestens klar, als die Stadt Mainz zum Risikogebiet erklärt wurde. Diese Klassifizierung fand erst am letzten Sonntag statt und hatte daher sicherlich keinen Einfluss auf die Art der Veranstaltung.

Allerdings führte sie dazu, dass bei mir der Eindruck aufkam, dass man sich bewusst abschotten wollte, vom pöbelnden Fuß(ball)volk: Voraussetzung jeder Diskussion sind zunächst einmal Menschen mit einer unterschiedlichen Meinung zu einem Thema. Die geladenen Gäste aber bewiesen in den 90 Minuten das genaue Gegenteil. Der Verein beweihräucherte sich selbst mit seiner Weitsicht. Attestiert wurde diese Selbstbeweihräucherung auch noch durch den DFB-Präsidenten. Dass er sich persönlich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben hat, ist sehr löblich. Allerdings bekam ich den Eindruck, dass er da innerhalb seines Verbands auf vollkommen taube Ohren stößt, wenn er bei seinem Amtsantritt fragte, wer zukünftig das Thema CSR mit bearbeiten wollte. Diese Offenheit war sympathisch, zeigte aber deutlich, dass die Kritik am DFB (nicht an Herrn Keller persönlich) durch aktive Fußballfans wohl durchaus gerechtfertigt ist.

Die anderen Diskutanten hatten selbstverständlich ihre Berechtigung zum Thema Klimaschutz etwas zu sagen. Aber es wurde die Chance verpasst, Menschen einzuladen, die eine kontroverse Meinung zu diesem Thema haben. Das hat mich ein wenig an die Diskussionsrunden auf dem Open Ohr an Pfingsten auf der Zitadelle erinnert. Seitdem Heiner Geißler dort nicht mehr zu Gast war, saßen dort zu oft Menschen mit ähnlichem Meinungsbild zusammen und verhinderten damit einen Disput auf angemessenem Niveau. Darauf in der Festival-Kritik angesprochen entgegnete die „Freie Projektgruppe“ des Open Ohrs, dass sie oft Absagen von Politiker*innen mit anderem Parteibuch als dem der Linken, SPD oder Grünen erhalten. Ob der Verein den Versuch unternommen hat, kritische Geister einzuladen, weiß ich nicht. Aber man hätte auch einfach mal Leute aus dem Verein anfragen können, denen das Thema (noch) nicht so zusagt.

So entstand der einzige Dissens bei der Frage nach den eingesetzten Bechern im Stadion. Die einzige Frau im männerdominierten 7er-Kreis, Dezernentin Katrin Eder, brachte wenigstens den Willen mit, den Verein für seine Einwegbecher-Strategie zu kritisieren – sicherlich wohlwissend, dass es da auch keine wirklich einfache Antwort darauf gibt, ob Mehrwegbecher tatsächlich nachhaltiger sind. Wenn sich aber alle Diskutant*innen bereits vorher einig waren, dass Nullfünf alles toll macht, und alle anderen das nicht toll machen, hätte man sich das auch sparen können – oder wenn schon CSR-Blase und DFB-Präsident, dann hätte man so richtig nachhaken können. Warum zum Beispiel setzt der DFB seine Marktmacht als größter Sportverband der Welt nicht ein, dass die eingesetzten Fußbälle nachhaltig produziert werden oder die Trikots der Nationalmannschaft. Ein kleiner Verein wie Mainz 05 hat da tatsächlich wenig Einfluss drauf, der große DFB aber schon. Oder bleiben wir bei unserem Verein, der ja ab und zu auch fliegen muss oder will: Er redet immer von CO2-Kompensationen und Klimaneutralität. Aber beim Fliegen sind die Non-CO2-Anteile an klimaschädlichen Gasen zwei- bis dreimal so hoch. Werden diese kompensiert? Und wie werden sie kompensiert? Über 20 Jahre hinweg durch Pflanzaktionen oder direkt durch den Kauf von so genanntem „Sustainable Aviation Fuel“, also nachhaltigem Flugbenzin, was zirka 10-mal so teuer ist in der Kompensation? Oder das Kompensationsprojekt in Ruanda! Ist dieses vom Gold Standard oder einer vergleichbaren Organisation zertifiziert, damit man nicht in Gefahr gerät, des Greenwashings bezichtigt zu werden? Herr Keller sprach davon, dass man lieber weniger Fleisch aber dafür hochwertigeres Fleisch essen sollte. Wie verträgt sich dann das 2-Euro-Fleischkäsebrötchen mit so einer Aussage (das übrigens genauso teuer/billig ist, wie die Ditsch-Brezel). Ja, selbst innerhalb dieses geschlossenen Zirkels, hätte die Chance bestanden, kontroverser zu diskutieren. Und das Publikum? Die geladenen Journalisten durften keine Fragen stellen. Und über die eingeblendete E-Mail-Adresse kamen angeblich keine Fragen beim Moderator an.  

Und dass man das Gremium femininer hätte besetzen können, kam im Laufe der Veranstaltung dann auch noch raus. Schließlich, so erzählte er es selbst, betraute DFB-Boss Keller eine Frau mit dem Thema CSR beim Sportverband. Und auch bei Mainz 05 ist mit Christina Mayer eine Frau für das Thema CSR zuständig. Dafür hätten dann allerdings zwei Männer die Bühne freimachen müssen. Und das wäre wohl dem Guten zu viel gewesen, denn über soziale Nachhaltigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, Equal Pay im Fußball etc. wurde an diesem Abend leider gar nicht gesprochen. Hat halt nix mit Klimaverteidiger*innen zu tun…