Die Finanz-Bundesliga-Tabelle 2020/21 – Teil 1

Im Mai 2019 veröffentlichte die DFL nach dem Beschluss der Mitgliederversammlung Ende 2018 erstmals die Finanzkennzahlen der Bundesliga-Vereine. Da wir bei der Bundesliga nicht erst seit den Geisterspielen wissen, dass es nur ums Geschäft geht, hatte ich im vorletzten Jahr die „Finanz-Bundesliga-Tabelle 2018/19“ veröffentlicht. In dieser habe ich die Finanzkennzahlen, die die DFL pro Verein veröffentlicht hat, mit Hilfe von Leistungskennzahlen, so genannten „Key Performance Indicators“, kurz KPIs, analysiert. Daraus ergaben sich für die einzelnen Vereine viele interessante Ergebnisse. Da sich die Vereine untereinander in einem Wettbewerb befinden, war es bereits 2019 extrem spannend zu sehen, wie es tatsächlich um „Financial Fairplay“ bestellt ist. Im letzten Jahr wurde es noch einen Tick interessanter, weil es erstmals möglich war, Veränderungen im Vergleich zum vorangegangen Geschäftsjahr zu ermitteln und die „Finanz-Bundesliga-Tabelle 2019/20“ zu veröffentlichen. Im Sommer 2020 befand sich die Pandemie noch in einem frühen Stadium, so dass Corona bei den meisten Bundesligisten die Bilanz nur zu einem Drittel (4 Monate) verhageln sollte, da der Bilanzstichtag der 30. Juni 2020 ist. Allerding bilanzieren Eintracht Frankfurt, Bayer 04 Leverkusen, Borussia Mönchengladbach, der VfB Stuttgart und der FC Schalke 04 zum 31. Dezember 2020. Dadurch sind die Ergebnisse in diesem Jahr ziemlich verzerrt, da diese fünf Clubs 10 Monate Corona in der Bilanz stehen haben.

Zum Bilanzstichtag 30. Juni 2020 spielte Arminia Bielefeld in der 2. Liga, der VfB Stutgart spielte die Hälfte seines Geschäftsjahres in der 2. Liga (bis zum 30. Juni 2020). Im vorangegangen Jahr (Bilanzstichtag 30. Juni 2019) spielten der 1. FC Köln, Arminia Bielefeld und Union Berlin in der 2. Liga.

Da sich Fans zahlreicher anderer Vereine für diese Tabelle interessieren, gehe ich auf alle 18 Erstligisten der Saison 2020/21 ein und beleuchte am Rande in diesem Jahr auch erstmals die Aufsteiger also Spielvereinigung Greuther Fürth und den VfL Bochum. Dadurch macht es meiner Meinung nach Sinn, dieses Thema in Abschnitte zu unterteilen:

Teil 1: Einführung und die KPIs Anlagendeckungsgrad und Eigenkapitalquote
Teil 2: Die KPIs Eigenkapitalrendite und Umsatzrentabilität
Teil 3: Die KPIs Personalaufwandsquote und Verschuldungsgrad
Teil 4: Die Finanz-Bundesliga-Abschlusstabelle 2020/21

Aus den folgenden von der DFL veröffentlichten Kennzahlen habe ich die unten stehenden Unternehmenskennzahlen hergeleitet:

  • Anlagevermögen
  • Eigenkapital
  • Verbindlichkeiten + Rückstellungen (=Fremdkapital)
  • Bilanzsumme
  • Jahresüberschuss
  • Personalkosten
  • Rohergebnis (als Umsatz genutzt)

Daraus habe ich die folgenden Leistungskennzahlen hergeleitet:

  • Anlagendeckungsgrad
  • Eigenkapitalquote
  • Eigenkapitalrendite
  • Umsatzrentabilität
  • Personalaufwandsquote
  • Verschuldungsgrad

Anmerkung in eigener Sache: Unter den Leser*innen dieses Blogs gibt es sicherlich versiertere „Bilanzbuchhalter*innen“ als ich es bin. Man hätte zum Beispiel die passiven Rechnungsabgrenzungsposten dem Fremdkapital hinzurechnen können. Dazu hätte ich dann allerdings auch wissen müssen, um was es sich da tatsächlich handelt. Ziel dieser Analyse ist es daher nicht, für 18 Vereine wasserdichte Finanzgutachten zu erstellen. Vielmehr soll sie den Fußballfans dazu dienen, sich ein grobes Bild des eigenen Vereins in Bezug auf die finanzielle Situation zu machen – im Vergleich zum Konkurrenten genauso wie zum Vorjahr. Wie bei vielen anderen „Fan-Aktionen“ auch, ist dieser Artikel in der Freizeit entstanden, ohne finanzielle oder sonstige Kompensation. Eine noch detaillierte Aufstellung hätte den zeitlichen Aufwand deutlich gesprengt.

Top-Location zum „Last Christmas“ singen und Top-Platzierung beim Anlagendeckungsgrad und der Eigenkapitalquote: TSG Hoffenheim

1. Anlagendeckungsgrad (Eigenkapital zu Anlagevermögen)

Je höher der Deckungsgrad, desto besser steht es um die Finanzierung des Clubs. Wie 2018 und 2019 gibt es wieder Clubs mit negativem Eigenkapital, sprich diese Clubs sind bilanziell überschuldet. Das Vermögen des Vereins deckt nicht mehr die Schulden. 2018 waren es Hertha BSC Berlin, der SC Paderborn und Union Berlin, die negatives Eigenkapitel aufwiesen. 2019 betraf es Union Berlin, Arminia Bielefeld und den FC Schalke 04. Hertha hatte 2019 die Kurve durch den Einstieg eines Investors bekommen. 2020 wiesen Union Berlin, Arminia Bielefeld und die beiden späteren Absteiger der Saison 2020/21 Werder Bremen und Schalke 04 negatives Eigenkapital auf. Auch der Aufsteiger VfL Bochum hat ein geringes negatives Eigenkapital vorzuweisen.

Der FC Augsburg (16,9 Mio. Euro), RB Leipzig (32 Mio. Euro) und der 1. FSV Mainz 05 (2,3 Mio. Euro) haben wie im Vorjahr Investitionszuschüsse (wahrscheinlich für das jeweilige Stadion) erhalten, die man dem Eigenkapital zurechnen kann. Ich habe diese Zuschüsse weggelassen, um eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen. 2018 Jahr war dieser Zuschuss bei RB Leipzig größer als damals das eigentliche Eigenkapital in Höhe von 27 Mio Euro. Plötzlich standen 2019 in der Bilanz von RB einfach 100 Mio. Euro mehr Eigenkapital. Diesem sind wahrlich Flügel gewachsen! In 2020 sind nur noch 5 Mio. Euro Eigenkapital hinzugekommen. Die Flügel bekamen diesmal Hertha BSC und die TSG Hoffenheim.

Der Eigenkapitalzuwachs bei Hertha BSC in Höhe von 70 Mio. Euro war schon 2019 nicht „normal“ – dem Investor sei Dank! In 2020 kamen nochmals 28 Mio. Euro hinzu – das entspricht einem Zuwachs von 350 Prozent! Um sagenhafte 53 Mio. Euro ist das Eigenkapital der TSG Hoffenheim in 2020 gewachsen – das sind allerdings nur 24 Prozent. Leichte Zuwächse verzeichnen auch der FC Augsburg (2 Prozent), der SC Freiburg (< 1 Prozent),

Keine Veränderungen gab es wie jedes Jahr beim VfL Wolfsburg und bei Bayer 04 Leverkusen, da es bei diesen Vereinen eigentlich egal ist, wie sie wirtschaften, da am Ende alles durch den Pharmariesen bzw. den Autokonzern augeglichen wird.

Wer immer über die Bayern schimpft…deren Eigenkapital ist im selben Zeitraum um 5 Mio. Euro gesunken. Das entspricht 1 Prozent. Ebenfalls leicht gesunken ist das Eigenkapital bei Mainz 05 (-4 Prozent). Das Eigenkapital hat sich bei der Eintracht und dem VfB grob halbiert – beide Vereine bilanzieren allerdings zum Jahresende, sprich 10 Monate Pandemie haben am Eigenkapital gezehrt. Womöglich hat sich das Eigenkapital auch bei den anderen Clubs inzwischen extrem reduziert.

Hatte der SV Werder Bremen 2019 noch positives Eigenkapital in Höhe von 10 Mio. Euro so ist der Verein mittlerweile mit 23 Mio. Euro negativem Eigenkapital überschuldet. Union Berlin hat sein negatives Eigenkapital verdoppelt, Arminia Bielefeld verdreifacht – gleiches ist Schalke 04 passiert. Allerdings bilanziert Schalke zum 31. Dezember, sprich die Pandemie ist schon fast komplett „eingepreist“.

Das Anlagevermögen sind die so genannten Steine eines Vereins, sprich diese sollen dem Verein dauerhaft dazu dienen, den Spielbetrieb durchzuführen. Dieses hat sich bei Hertha BSC um 92 Mio. Euro mehr als vervierfacht. Um gut ein Fünftel ist es beim FC Augsburg, bei Union Berlin, Arminia Bielefeld, Borussia Dortmund, dem SC Freiburg, der TSG Hoffenheim und RB Leipzig gestiegen. Gesunken um mehr als 10 Prozent ist es bei Borussia Mönchengladbach, dem SV Werder Bremen und dem FC Schalke 04. Gleiches trifft auf Aufsteiger Greuther Fürth zu.

Es ergibt sich die Anlagendeckungsgrad-Tabelle 2020/21 (in Klammern das Ergebnis vom Vorjahr)

1. TSG Hoffenheim (2.)
2. SC Freiburg (1.)
3. FC Bayern München (3.)
4. Bayer 04 Leverkusen (5.)
5. 1. FSV Mainz 05 (6.)
6. Borussia Dortmund (4.)
7. FC Augsburg (7.)
8. Borussia Mönchengladbach (11.)
9. RB Leipzig (10.)
10. Hertha BSC Berlin (13.)
11. Eintracht Frankfurt (8.)
12. VfL Wolfsburg (15.)
13. VfB Stuttgart (neu)
14. 1. FC Köln (9.)
15. SV Werder Bremen (16.)
16. FC Union Berlin (18.)
17. FC Schalke 04 (17.)
18. Arminia Bielefeld (neu)

Baden dominiert diese Tabelle. Sowohl die TSG Hoffenheim, als auch der SC Freiburg haben einen Deckungsgrad weit über 1 – d.h. die Steine sind also mehr als vollkommen selbst finanziert. Auch der FC Bayern hat eine leichte Überdeckung. Komplett fremdfinanziert, da überschuldet sind die Steine bei der Platz 15 bis 18. Bei Platz 4 bis 7 ist die Mehrheit der Steine eigenfinanziert. Gleiches gilt für Greuther Fürth, während der VfL Bochum mit leichter Überschuldung auf Platz 15 käme.

2. Eigenkapitalquote (Eigenkapital zu Bilanzsumme)

Je höher die Eigenkapitalquote desto mehr finanzielles Engagement bringt der eigene Club auf, sprich desto mehr finanziert sich der Verein selber und desto geringer ist die Chance, dass der Verein pleite geht. Das sind die Rücklagen, die von den Clubs in Bezug auf die Pandemie gefordert wurden, um Krisenzeiten länger als ein paar Wochen durchzustehen. Da kam die finanzielle Spritze durch den Investor bei der Hertha gerade rechtzeitig.

Um die „Größe“ der Clubs miteinander zu vergleichen eignet sich die Bilanzsumme ganz gut. Sie zeigt das Gesamtvermögen eines Unternehmens auf – und gleichzeitig auch das Gesamtkapital, das notwendig ist, um den Laden am Laufen zu halten. Das Verhältnis der Clubs untereinander, das sich unter anderem aus dem finanziellen Gebaren der Vorjahre herleitet, ist auch ganz interessant zu betrachten. Der größte Verein (FC Bayern) ist fast 60-mal größer als der kleinste Verein (Arminia Bielefeld). Trotz Corona konnte Hertha BSC immer noch um fast 50 Prozent wachsen (2019 lag der Zuwachs noch bei 300 Prozent). Ansonsten waren die Steigerungen im Vergleich zum Vorjahr relativ niedrig. Um ein Fünftel legten Union Berlin, Arminia Bielefeld (als Zweitligist), die TSG Hoffenheim, RB Leipzig, Bayer 04 Leverkusen und der VfB Stuttgart (als halber Zweitligist) zu. Um rund ein Viertel sind Eintracht Frankfurt und Werder Bremen geschrumpft. Mainz 05 ist um 5 Prozent gewachsen.

Hinter dem unangefochtenen Spitzenduo aus München und Dortmund (Unterschied aber trotzdem fast 200 Mio. Euro) liegen mit RB Leipzig, Bayer 04 Leverkusen und der TSG Hoffenheim drei Vereine, die sich „traditionell“ auf bekannte Geldgeber stützen können. Der VfL Wolfsburg verliert hier ein wenig den Anschluss und bildet nun mit Borussia Mönchengladbach und der neureichen Hertha ein neues Trio hinter den fünf Platzhirschen. Den Anschluss verliert hier auch immer mehr der FC Schalke 04, der nun eine Vierergruppe mit dem FC Augsburg, der Eintracht und dem VfB Stuttgart im oberen Mittelfeld bildet. Ihr eigenes Biotop haben der SC Freiburg und Mainz 05, gefolgt vom 1. FC Köln. Dahinter liegen der SV Werder Bremen und Union Berlin. Mit weitem Abstand folgt dann Arminia Bielefeld. Die beiden Aufsteiger lägen dazwischen, sprich Bochum in der Bilanzsumme etwas oberhalb der Arminia und Greuther Fürth weist eine etwa halb so große Bilanzsumme wie Arminia Bielefeld auf. Damit ist der FC Bayern 100-mal größer als Greuther Fürth.

Anmerkung: Bei der Bilanzsumme handelt es sich nicht um eine Finanzkennzahl, die ich erst kalkulieren musste. Sie steht auf der Seite der DFL zu Verfügung. Sie bildet nur die Basis, um die Eigenkapitalquote zu ermitteln. Groß bedeutet nicht stark, solide oder solvent. Wenn das so einfach zu ermitteln wäre, dann könnte man sich die Analyse der Kennzahlen mit KPIs auch sparen. Daher fließt die Bilanzsumme als solche nicht in die in Teil 4 zu erstellende Finanz-Bundesliga-Tabelle direkt ein, sondern nur über die Eigenkapitalquote.

Es ergibt sich die Eigenkapitalquote-Tabelle (in Klammern das Ergebnis vom Vorjahr)

1. TSG Hoffenheim (1.)
2. SC Freiburg (2.)
3. Bayern München (4.)
4. Borussia Dortmund (3.)
5. Bayer 04 Leverkusen (5.)
6. 1. FSV Mainz 05 (6.)
7. Borussia Mönchengladbach (7.)
8. FC Augsburg (10.)
9. RB Leipzig (9.)
10. Eintracht Frankfurt (11.)
11. Hertha BSC Berlin (16.)
12. VfB Stuttgart (neu)
13. 1. FC Köln (8.)
14. VfL Wolfsburg (14.)
15. SV Werder Bremen (13,)
16. Arminia Bielefeld (neu)
17. FC Union Berlin (18.)
18. FC Schalke 04 (17.)

Wie beim Anlagendeckungsgrad dominiert Baden die Liga auch bei der Eigenkapitalquote. Die TSG Hoffenheim und der SC Freiburng sind finanziell weiterhin gut aufgestellt . Durch die massive Erhöhung des Eigenkapitals steht die Hertha mittlerweile im Mittelfeld. Die Tabelle der Eigenkapitalquote gibt wohl am ehesten Auskunft auf die Frage, bei welchen Vereinen die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass sie eine neue Einstellung des Spielbetriebs wegen Corona überleben könnten. Daher hat wahrscheinlich auch Union Berlin so auf eine Öffnung der Stadion für die Zuschauer gedrungen, da der Verein finanziell so schlecht darsteht. Für Bremen und Schalke kam der Abstieg einem Desaster gleich. Während Greuther Fürth auf Platz 7 landen würde, käme der leicht überschuldete VfL Bochum auf Platz 15.

Im zweiten Teil der Finanz-Bundesliga-Tabelle 2020/21 wird es unter anderem um die Eigenkapitalrendite (Jahresüberschuss zu Eigenkapital) gehen und zu dramatischen Resultaten wegen Corona führen.

Prio 05 in der Homeoffice-Saison

Die Fußballbundesliga-Saison 2020/21 ist für Fans des 1. FSV Mainz 05 Geschichte und die herovrragende sportliche Leistung der Mannschaft in der Rückrunde ist kaum in Worte zu fassen. Bundesweit findet dieses Wunder jedoch wie immer keine richtige Würdigung. Um es positiv zu sehen: Es gibt doch einen Punkt, der sich in der Pandemie nicht verändert hat. Mainz 05 fliegt weiterhin unter dem Radar der meisten überregionalen Beobachter*innen. Da ich vom Fußball selbst wenig Ahnung habe, möchte ich mein Fazit der Saison aus meiner persönlichen Gefühlslage während der vergangenen 34 Spieltage und 2 Pokalrunden herleiten. Schließlich verbinde ich Fußball eher mit emotionalen Kettenreaktionen als mit stabiler Viererkette.

Ich bin der Meinung, dass es die ganze Saison über schwierig war, mit der Gesamtlage in Deutschland und darüber hinaus umzugehen. Pandemie und Stadionbesuche passen nicht zusammen. Jede*r von uns war unweigerlich gezwungen, sich die persönliche rot-weiße Fußballwelt neu aufzubauen. Es war ein notwendiger Umzug aus der geliebten Umgebung, dem Stadion mit Fangesängen, mehr oder weniger guten Gesprächen – manchmal abhängig vom Promillegrad, Bierduschen, Ketchupflecken, Kippenduft, Kloschlangen und Pfandbecherdiskussionen hinüber in eine Zone, die aus Radio, Fernseher, Smartphone und/oder Computer bestand . Wir begaben uns ins „Fan-Homeoffice“.

Farbe zu bekennen ist weiterhin möglich – auch ohne physische Präsenz im Stadion (Archiv-Bild vom Februar 2019)

Manche haben diesen Umzug vielleicht schon vor Jahren begonnen, etwa in dem sie zunächst nicht mehr oder nie auswärts gefahren sind, irgendwann die Dauerkarte abgegeben haben und auch keine Lust mehr hatten, überhaupt mal den Weg in die Bretzenheimer Felder auf sich zu nehmen. Je nach „Umzugs-Fortschritt“ war die Veränderung vielleicht für die eine oder den anderen im Laufe der Saison gar nicht so gravierend.

Auch ich hatte Anfang 2020 nicht die Energie, nach Wolfsburg und zur Hertha zu fahren. Solche Motivationsdellen hatte ich, seitdem ich 2005 regelmäßig auswärts fahre, immer mal wieder. Trotzdem hatte ich mich nach jedem Tiefpunkt wieder aufgerafft, auswärts zu fahren und wurde immer wieder belohnt – nicht immer mit sportlichen Ergebnissen, sondern vielmehr mit Erinnerungen an einen Tag voller meist positiver Erfahrungen, die man im durchstrukturierten Alltag eher weniger sammelt. So aber war mein letztes besuchtes Auswärtsspiel Ende Januar 2020 das in Gladbach. Ich kann mich noch an den überfüllten Shuttle-Bus zum Hauptbahnhof und an die nervige Weiterfahrt nach Neuss erinnern, da es die angezeigten Züge nicht gab und es Stunden dauerte, um in der Nachbarstadt anzukommen, wo ich den Abend mit Verwandten verbringen wollte. Damals war Corona noch weit weg und natürlich hätte ich nie gedacht, dass das bis dato meine letzte Auswärtsfahrt sein sollte (und der letzte Verandtenbesuch). Die kurze Pause des Spielbetriebs im letzten Frühjahr während der ersten Welle und die anschließenden Geisterspiele waren noch zu ertragen. Sie korrelierten auch ein wenig mit meinem temporären Auswärtsfahrten-Loch. Eine kleine Pause vom Fußball hatte mir auch auf meinen Reisen immer wieder gut getan.

Es gibt Aussagen, die haben auch in der Pandemie Bestand.

#AlleoderKeiner lautete zu Beginn der neuen Saison 2020/21 das Motto vieler Stadiongänger*innen. Schließlich öffneten sich die Tore der verwaisten Arenen für ein paar Zuschauer. Gästefans waren ausgeschlossen. Alkoholverbote die Praxis und Stehplätze tabu. Das waren Zustände, wie ich sie in einem Stadion nicht erleben möchte. Natürlich kann ich auf das schale Stadionbier aus dem Plastikbecher verzichten. Das war ja bereits in Hoffenheim, Wolfsburg oder Augsburg schon vor der Pandemie der Fall.  Aber Gästefans und Stehplätze sind für mich das Salz in der Suppe jedes Spiels mit Zuschauern. Was mich jedoch positiv stimmte: Es gab keine Spaltung der Fanszenen. Es hatte den Anschein, dass jede*r die Haltung des anderen respektierte.

Für mich persönlich kam der Stadionbesuch unter diesen Bedingungen nicht in Frage – zumal ich auch im Sommer 2020 ein wenig Unbehagen vor dem Virus hatte und eigentlich immer darauf achtete, die AHA-Regeln einzuhalten. Das Pokalspiel, das freitagsabends stattfand, schaute ich im Hof des Fanhauses an der frischen Luft immer mit genügend Abstand zu den anderen. Ich empfand es so komisch, das eigene Team nur auf dem Bildschirm verfolgen zu können – da ich es jahrelang gewohnt war, die rot-weißen Jungs auch in den letzten Winkeln des Kontinents in Armenien, Aserbaidschan oder auch im Erzgebirge zu unterstützen. Ich gab mir dennoch den Ligaauftakt eine Woche später erneut auf dem Hof des Fanhauses. Das war der Ort, an dem ich mir versprach, am ehesten die Saison emotional halbwegs stabil durchzustehen. Schließlich traf ich dort auch auf viele Nasen, die ich monatelang nicht gesehen hatte.

Das Spielgeschehen verfolgte ich mehr schlecht als recht und die Gegentore lösten bei mir keine wirklichen Gefühle aus. Gerade in Leipzig hatte mich vor ein paar Jahren auch noch das sechste, siebte oder achte Gegentor weit mehr runtergezogen, als die paar Gegentore, die es an diesem warmen Sonntagnachmittag gab. Auch über den Treffer der Nullfünfer konnte ich mich nicht wirklich freuen – ich bilde mir zumindest ein, dass es einen gab. Das war wirklich kein Vergleich zum kollektiven Jubel in einem dicht gedrängten Gästeblock. Ich kam mir wie sediert vor und schaute während des Spiels öfter auf mein Smartphone – für mich eigentlich im Stadion ein No Go wenn der Ball rollte. Wir hatten verloren, aber es fühlte sich nicht allzu schlimm an. Ich bezahlte meine Getränke, verabschiedete mich von den anderen Nullfünf-Bekannten und radelte nach Hause. Das Spiel war da schon nicht mehr präsent – ich musste es noch nicht mal mehr verdrängen. Es war einfach nicht mehr wichtig. Früher wühlte mich jedes Spiel mindestens für Stunden auf. Der Adrenalinspiegel senkte sich erst mit der Zeit. Diesmal hatte ich nach dem Spiel keine Lust mehr, mir auf Twitter oder Facebook, die Kommentare anzuschauen, geschweige denn, etwas dazu zu formulieren.

Die Tage wurden kürzer, die Nachmittage kühler, der Herbst kündigte sich an. Fußball in einem geschlossenen Raum mit anderen Menschen zu schauen kam für mich aus Angst vor Ansteckung nicht in Frage. Das erste Ligaspiel der Nullfünfer war damit gleichzeitig das letzte Mal in dieser Saison, dass ich ein Spiel von Mainz 05 wirklich komplett live verfolgte.

Gemeinsam mit der Mannschaft Siege zu feiern – aktuell nicht möglich.

Der Rest der Hinrunde ist bekannt. Spielerstreik, der erste Trainerwechsel von Beierlorzer zu Lichte, ein verlorenes Spiel nach dem anderen. Ich nahm es zur Kenntnis. Oft schaute ich nach Spielschluss kurz im Netz das Ergebnis nach. Es löste bei mir keine wirklichen Emotionen aus. Gleichzeitig war ich erstaunt, dass in den sozialen Netzwerken praktisch alle, die auch vorher schon dort aktiv waren, sich über die Spiele genauso austauschten, wie vor der Pandemie. Es kamen sogar neue User*innen dazu oder wurden im Verlauf der Pandemiesaison erst so richtig aktiv. Natürlich muss das jede*r für sich entscheiden – für mich fühlte sich das irgendwie falsch an, spätestens als sich ab Oktober die zweite Welle abzeichnete und es klar war, dass es so schnell nichts mehr wird mit einem Stadionbesuch. Auch einen fertigen Impfstoff gab es noch nicht – Medikamente gegen Covid-19 fehlen sogar bis heute. Klar, der Spielbetrieb musste erneut aus kommerziellen Gründen durchgezogen werden – keine Frage. Es wurden ja auch die Arbeitgeber damals nicht wirklich verpflichtet, Homeoffice möglich zu machen. Daher war es natürlich logisch, dass der Ball rollte – mitten in einer Pandemie, der jeden Tag auch in Deutschland viele hundert Menschen zum Opfer fielen. Und ich sollte mich über eine weitere Niederlage meines Vereins aufregen? Bizarr!

Für mich fand ein Spiel immer im Stadion statt. Ich knipste ein paar Bilder, aber Social Media hatte für mich während des Spiels nie eine Bedeutung. Die Aufarbeitung des Spiels in den sozialen Netzwerken liebte ich früher dennoch sehr. Der Austausch mit Gleichgesinnten (und manchmal auch Fans der anderen Mannschaft) war meist sehr spannend, manchmal tröstend und oft mitreißend. Er fand für mich später statt, auf den langen Fahrten zurück nach Mainz oder bei Heimspielen auf der Couch zu Hause – Stunden nach dem Schlusspfiff, denn die Gespräche nachkicks am Fantreff waren für mich eine wunderbare „3. Halbzeit“. Für mich gab es plötzlich den ersten Schritt, das kollektive Stadion-Erlebnis, nicht mehr, daher konnte ich den zweiten Schritt das individuelle Aufarbeiten in den sozialen Netzwerken auch nicht mehr gehen – zumal da draußen ja ein Virus am Werk war. Das war spätestens dann abstrus, als mit dem „Lockdown light“ im November fast alles dicht gemacht wurde – um Weihnachten zu retten.  Nullfünf war hingegen kaum noch zu retten, verlor weitere Spiele und mich berührte es irgendwie nicht wirklich.

Der direkte Austausch nach einem Spiel mit der Manschaft ist aktuell unmöglich.

Als dann kurz vor dem nicht mehr zu rettenden Weihnachtsfest Rouven hinschmiss, mit Jan-Moritz der nächste Trainer beurlaubt wurde und nach Neujahr die heiligen drei Könige (C+M+B) einzogen, packte mich auch keine große Euphorie. Ich wünschte meinem Verein alles, nur nichts Schlechtes und vorallem nicht den Abstieg. Und natürlich freute mich der Sieg gegen die Dosen. Auch bei mir keimte mit der Zeit die Hoffnung auf, dass es was werden könnte mit dem Klassenerhalt. So ging es den Rest der Saison weiter. Ja, ich fieberte sogar am Smartphone in der Kicker-App die letzten Minuten des Bayern-Spiels mit. Ich ärgerte mich über den späten Treffer der Eintracht.

Mit jedem der 17 anderen Clubs der aktuellen Spielzeit verbinde ich Geschichten meist von Auswärtsspielen, die teilweise 15 Jahre her sind, wie beispielsweise in Bielefeld 2005. Da habe ich immer noch Szenen vor Augen, wie alle aufgebracht und stinksauer auf den Zaun kletterten – weil es zwei Elfmeter gegen uns gab, die das Spiel entschieden – nachdem ich zwei Tage vorher aus Island vom Europapokal kommend, gerade die Sachen ausgepackt hatte, um quasi direkt weiter auf die Alm zu düsen. An die Geisterspiele der letzten Saison habe ich schon jetzt überhaupt keine Erinnerung mehr. Kenne ich die Ergebnisse von den meisten Gastspielen in den verschiedenen Stadien der vergangenen Jahre fast noch alle auswendig oder zumindest die Punkte, die wir da eingesackt hatten, weiß ich gar nicht mehr, gegen welche Teams wir in der Hinrunde vier Unentschieden geholt haben.

Kollektives Stadionerlebnis – September 2018

Während mich aufwühlende Auswärtsfahrten früher mindestens Tage emotional auf Trab hielten, hielt das beim Bayern-Sieg in dieser Saison einen halben Abend, beim Tor der SGE ein paar Minuten. In dieser Saison stand für mich dann recht schnell wieder die triviale Frage im Raum, was ich wohl kochen würde. Statt Belgischer Pommes am Düsseldorfer Hauptbahnhof auf dem Rückweg vom Spiel im Ruhrpott zu futtern, fing ich bereits nach ein paar Tagen Lockdown an, die Speisen zu kochen, die ich auf vielen Reisen durch Asien oder Mexiko sonst vor Ort auskoste. Seit Fastnacht herum frage ich wann wir alle wohl geimpft werden können? Dieses Gefühl verstärkte sich immer wieder, wenn bei Twitter im Sekundentakt Bilder von Impfausweisen oder Pflastern in die Welt hochgeladen wurden oder ich an der Bushaltestelle Plakate sehe, auf denen Menschen verkünden „Na klar lass‘ ich mich impfen“ – dabei hat noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung kein Impfangebot erhalten. Und wie ergeht es wohl anderen Menschen in der Pandemie? Kindern und Eltern beim Homeschooling, medizinischem Personal, Künster*innen, Leute, die gar nicht auf ihr Schicksal aufmerksam machen können, weil sie dazu keine Möglichkeiten haben, Menschen in ärmeren Ländern, die überhaupt keine mittelfristige Impfperspketive haben? Sich gleichzeitig über den nächten Sieg der Mannschaft freuen, im Internet positiv eskalieren? Ich konnte es irgendwie nicht.

Natürlich fragte ich mich auch früher schon in nüchternen Momenten, was ich eigentlich davon habe, wenn mein Verein gewinnt – spätestens beim nächsten Tor für uns, das ich im Stadion miterleben durfte, kam mir diese Frage wieder vollkommen absurd vor. Das gegenwärtige rationale Auseindersetzen mit dem Fandasein in der Pandemie zersetzt die verbliebenen Emotionen – aber an den Sympathien für meinen Verein ändert das nichts – wenigstens etwas. Ich bin nicht Prio 1, 2 oder 3 – meine lautet Nullfünf.

Ich freue mich, dass wieder Ruhe in den Verein eingekehrt ist. Ich freue mich über den Klassenerhalt. Ich freue mich für alle, denen diese Saison besonders ab Januar so viel Freude bereitet hat. Ich freue mich für alle, bei denen durch die Spiele die versprochene Ablenkung von der Pandemie tatsächlich eingetreten ist. Ich freue mich für alle, die dank der Durchführung des Spielbetriebs ihren Job nicht verloren haben und vielleicht sogar um längere Kurzarbeit und daraus resultierende Steuernachzahlungen herumgekommen sind. Ich freue mich für alle, die es geschafft haben, in Bezug auf den Fußball einfach so weiter zu machen, dummzubabbeln, zu motzen, zu kommentieren und Content zu erstellen, so als würde die Pandemie in einer Parallelwelt stattfinden. Ich freue mich auch für alle, die bereits geimpft sind und das Gefühl der Angst, sich womöglich anzustecken, ad acta legen können. Und ich freue mich drauf, dass es irgendwann für Geimpfte, Genesene und Getestete wieder möglich sein wird, ins Stadion zu gehen und den Fußball endlich wieder zu fühlen. Dann „darf“ es sportlich auch gerne so wie seit Januar weiterlaufen 😉

Kritisieren ja…bitte…aber an der richtigen Stelle

Die letzten Tage rund um Mainz 05 waren wieder turbulent und ein gefundenes Fressen für den Social Media-Mob: Eine Wahlkommission, die ihre Arbeit macht – in einer Pandemie, in der es wirklich schwierig ist, gemeinsam Sachen auf den Weg zu bringen. Diese Wahlkommission verrichtete ihr Werk ehrenamtlich, mit dem Ziel geordnete Wahlen beim geliebten Verein durchzuführen.

Ihr Fehler? Sie hat sich an die Satzung gehalten. Oder anders ausgedrückt, sie hat sich an die Fakten gehalten, auf deren Basis sie ihre Entscheidung treffen sollte. Aber wir wissen ja, wie die Faktenlage aktuell ist, wenn es um Fakten geht. Da werden Wissenschaftler, die sich ihr ganzes Berufsleben mit einem Virus beschäftigen, von Internethelden diskreditiert, die über das Virus die ersten zwei Zeilen bei Wikipedia gelesen haben. Auf einem zugegebenermaßen deutlich niedrigeren Level läuft das auch bei Mainz 05 gerade ab.

Auch im Umfeld von Mainz 05 wird lieber mit Emotionen statt mit Fakten argumentiert – leider

Wozu braucht man als Internetheld eine Satzung? Oder gar eine Mitgliedschaft bei Mainz 05? Es ist doch so viel einfacher, sich den Mitgliedsbeitrag zu sparen, und gemäß der Gratis-Unkultur kostenlos auf den Verein draufzuschlagen. Gut, natürlich darf auch jeder seine Meinung zum Verein Mainz 05 postulieren, der kein Mitglied ist. Aber wenn man seine verbalen Ergüsse ins Netz kippt, wäre es schon fair, sich zunächst einmal die Satzung des Vereins durchzulesen. Dann würde man merken, dass sich die erhobenen Vorwürfe gegenüber der Wahlkommission so schnell in Luft auflösen, wie ausgestoßene Aerosole in der Natur.

Wer jetzt aufhört zu lesen wird verpassen, dass ich die Kritik an den Ergebnissen, die die Wahlkommission präsentiert hat, sprich einen Kandidaten für den Vorstandsvorsitz auszusortieren und nur 12 Kandidat*innen für den Aufsichtsratsvorsitz zuzulassen, nachvollziehen kann. Allerdings sollte man statt der Wahlkommission jedes Vereinsmitglied kritisieren, das damals bei der Mitgliederversammlung diese Satzung durchgewunken hat. Ich gehöre übrigens dazu und habe damals leider zugestimmt. Und eine noch größere Kritik sollte denen zuteilwerden, die als Mitglieder*innen gar nicht erst gewählt haben – und die Nicht-Mitglieder? Werdet bitte Mitglied, bringt Satzungsänderungen ein und lasst uns dieses Schlamassel gemeinsam beseitigen!