Quo vadis Mainz 05? Vol. 2

„Wen wählst Du am Sonntag?“ war sicherlich die am häufigsten gestellte Frage beim gestrigen Stuttgart-Spiel. Während ich am Freitag mehr auf die Umstände rund um die Wahl eingegangen bin, geht es mir heute eher um die Kandidatin und die Kandidaten. Dankenswerterweise hatten hierfür die Supporters uns die Möglichkeit gegeben, sich vor dem Spiel unter dem A-Block ein Bild von ihnen zu machen. Gewinner waren eindeutig die Supporters, denn das Angebot mit den vieren ins Gespräch zu kommen, ist rege von Jung und Alt angenommen worden. 

Stadion am Europakreisel in Mainz
Stadion am Europakreisel in Mainz


Eine Wahlempfehlung auszusprechen ist immer eine schwierige Sache. Alle vier Kandidaten haben in ihren Präsentationen davon gesprochen, wieder Ruhe in den Verein bringen zu wollen. Bevor es später zur Wahl des Vorstandsvorsitzenden kommt, steht zunächst wohl noch ein Antrag auf eine Satzungsänderung an. In dieser geht es darum, zukünftig einen hauptamtlichen Vorstandsvorsitzenden zu wählen. Damit wäre die Wahl zum ehrenamtlichen Vorstandsvorsitzenden hinfällig und Ruhe würde bei Mainz 05 sicherlich nicht einkehren. Daher sollte man diese Änderung sicherlich im Hinterkopf behalten. Ob sich diese Änderung für heute empfiehlt, sei dahingestellt.

Rouven Schröder hat einmal sinngemäß gesagt, das wichtigste bei Mainz 05 sei der Verein und nicht die Köpfe. Die vier Köpfe, die das neue Aushängeschild von unserem Verein werden wollen, haben alle einen unterschiedlichen Wahlkampf in der Kürze der Zeit geführt. Gestern sah ich auf der Seite 17 der AZ eine Anzeige der „Interessengemeinschaft Mainz 05“. Wer diese Interessengemeinschaft ist, bleibt im Nebel. Es ist aber anzunehmen, dass diese mit dem Wissen von Herrn Doetz die Anzeige platziert hat. In dieser duzt sie alle Leserinnen und Leser der AZ zunächst und fordert diese auf, ins Stadion zu kommen. Wenn es um die Wahl geht, verfällt der Verfasser der Anzeige ins Sie und befiehlt „Wählen Sie Jürgen Doetz!“. Danach werden seine vermeintlichen USP (nicht Ultras Sankt Pauli – sondern Unique Selling Points) aufgezeigt: Er hätte Erfahrung. Frau Federhenn und Herr Hofmann sind bei Mainz 05 allerdings auch schon sehr lange im Geschäft. Er sei der Kandidat, den man kennt, „überall dort wo es hilft“ – das Komma fehlt tatsächlich – ob es an der heißen Nadel lag, mit der sie gestrickt wurde? Herr Hofmann hatte das Nachwuchsleistungszentrum aufgebaut und 12 Jahre geführt – dadurch ist er sicherlich gut mit DFB und DFL vernetzt. Herr Doetz sei der Kandidat mit klarem Programm „für unsere Probleme“. Von Lösungen ist nicht die Rede – denn diese hätte er ja in seiner Funktion bis Sommer auch präsentieren können. Schließlich sei Herr Doetz der Kandidat, „der dem Verein rund um die Uhr zur Verfügung stehen wird“. Die maximale Wochenarbeitszeit in Deutschland beträgt 48 Stunden – mehr möchte ich persönlich einem Ehrenamtler auch nicht zumuten. Schließlich arbeitet dieser in einem Team und die vorgestern angesprochenen Alphamännchen, die alles alleine entscheiden, befinden sich auf dem absteigenden Ast. Trotzdem ist der letzte Punkt sehr wichtig, wenn man an die oben genannte Satzungsänderung denkt, die im Raume steht. Womöglich wäre er ein Kandidat für einen zukünftig zu wählenden hauptamtlichen Vorstand.

„Der Plan ist perfekt“ so lautet das Intro zu einem „investigativen“ Artikel des Fachmagazins für Torkanonen. Eigentlich soll es um die Kandidatur von Frau Federhenn gehen. Diese wird in der Online-Ausgabe als „letztes Puzzleteil“ bezeichnet. Im Artikel selbst geht es um den Puzzlespieler, den Vorsitzenden des Aufsichtsrats, Herrn Höhne. Heldenhaft sind die Torkanonen-Journalisten Herrn Höhne auf die Schliche gekommen, als dieser die Mitgliedslisten durchforstete und feststellte, dass 30% der Nullfünfer, ja eigentlich Nullfünferinnen sind. Daher fiel seine Wahl auf das Aufsichtsratsmitglied Frau Federhenn, die er angeblich inthronisieren möchte. Dass dieses dem Aufsichtsrats zustehende Vorschlagsrecht auf einer Entscheidung des Gremiums beruhte und nicht die eines Alpamännchsens mit Allmachtphantasien war, haben die Torkanonen-Kolumnisten ignoriert. Und dass Herr Höhne, „wie aus sicheren Quellen zu erfahren war“, Frau Federhenns Reden und Interviews aufpimpte, zeigt vielleicht eher die Qualitäten von Frau Federhenn, die anders als viele Männer, nicht beratungsresistent ist, sondern sich helfen lässt. An seinen Schwächen zu arbeiten war sicherlich noch nie ein Fehler – aber ein Männer dominiertes Redaktionsteam macht natürlich keine Fehler und ist auf so etwas nie und nimmer angewiesen. Es wäre allerdings besser gewesen, Frau Federhenn hätte zum Zeitpunkt der Bekanntgabe ihrer Kandidatur ihr Mandat im Aufsichtsrat niedergelegt. Denn wenn sie nachher nicht gewinnt, wird sie zukünftig die Person, gegen die sie unterlag, kontrollieren. Wie war das noch mit Mainz 05, der Wichtigkeit, dem Verein und den Köpfen?

Ich nahm gerne vor dem Spiel das Angebot der Supporters an, um den Ausführungen des dritten Kandidaten, Herrn Hofmann zu lauschen, da ich ihn nicht kenne. Er stand vielen Leuten aus der aktiven Fanszene Rede und Antwort. Glücklicherweise wurden ihm auch in aller Ausführlichkeit kritische Fragen gestellt, z.B. zum Thema Motivation. Hofmann erklärte, dass er diesen Begriff im Sommer im Zusammenhang mit Mainz 05 gar nicht benutzt hat. Bei mir kam es damals so an, als sei er aufgrund von fehlender Motivation aus seiner Tätigkeit im Nachwuchsleistungszentrum ausgeschieden. Hofmann stellt die Sache gerade. Auf seine Ausführungen hin, die er gegenüber einem Journalisten tätigte, warum er nach 12 Jahren in dieser Funktion, in der er im Bereich Nachwuchsförderung sicherlich alles miterlebt hatte, die tägliche Routine vielleicht nicht mehr als so den Burner empfand, sprach der Journalist von Motivationsproblemen. Das ganze erinnerte mich ein wenig an den Don, der auch nicht sein Leben lang die Lebensversicherung von Mainz 05 spielen wollte. Hofmann selbst blieb vielmehr Mainz 05 eng verbunden, in dem er z.B. für Sandro die kommenden Gegner beobachtete – unmotiviert kann man eine solche Arbeit sicherlich nicht verrichten. Und ihm war wichtig klarzustellen, dass er seit drei Jahren Thomas Krücken im Nachwuchsleistungszentrum aufgebaut hat und praktisch eine fließende Übergabe ermöglichte. Hier merkt man, dass dieser Mann Aufgaben ernst nimmt und sich entsprechend engagiert.

Interessant waren auch Hofmanns Ausführungen über das Amt, auf das er sich heute bewirbt. Langfristig sieht er auch die Notwendigkeit, einen hauptamtlichen Vorstandsvorsitzenden zu installieren. Allerdings nicht heute, damit der Verein endlich zur Ruhe kommt. Und auf die Frage, wie er Amt und Job miteinander verbinden kann, erklärte er seinen Beamten-Status, der es ihm ermöglichen kann, kürzer zu treten und die notwendige Zeit für das Amt aufzubringen.

Ich wünsche mir vorallem, dass eine möglichst große Zahl an Nullfünfern nachher in die Halle 45 kommt – mit Perso und Mitgliedsausweis, damit unser neues Aushängeschild eine größtmögliche Legitimation erfährt.

In diesem Sinne, gute Nacht und bis später in der Halle 45!

Quo vadis Mainz 05?

Eigentlich ist doch alles im Lot bei uns in der goldenen Stadt. Wir haben bekanntlich eine Jahreszeit mehr als der Rest der Welt und für viele von uns ist die aktuelle, die nullfünfte, selbstverständlich die schönste Jahreszeit von allen! Ich greife, anders das mittlerweile auch in Mainz dafür bekannte Fachmagazin, ungern in den demokratischen Entscheidungsprozess ein, aber wenn die Fraktionen von CDU, SPD, Grüne, FDP, ÖDP und FWG den Vorschlag des OBs gut finden, dann wird wohl am 7. Februar das „Margittsche“ an ihrem 75. Geburtstag die zweite Ehrenbürgerin der Stadt Mainz – mit Hilfe einer demokratischen Abstimmung im Stadtrat und zwar durch einem Mehrheitsentscheid. Es wäre erst die zweite Frau überhaupt nach Anna Seghers 1981 und eine, die ausgerechnet aus der von Männern dominierten Fassenachtsszene stammt.

Stadion am Europakreisel in Mainz
Stadion am Europakreisel in Mainz

Und wir befinden uns glücklicherweise im Jahr 2018 und nicht im Jahr 1970. Da saß Lenelotte von Bothmer im Deutschen Bundestag und der Bundestagsvizepräsident hatte angekündigt, er werde der Abgeordneten das Rederecht entziehen, wenn sie – in Hosen!!! – erscheinen würde. In dieser Epoche sind wohl einige Menschen hängengeblieben oder hängen an diesen alten Zeiten, wenn man bedenkt, was in den letzten Wochen in unserem Städtchen so abgegangen ist. Nein, früher war nicht alles besser (die Bundesliga per se mal ausgenommen). Und Ende 2017 hat sich in unserem Land sogar etwas Revolutionäres zugetragen. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass es zukünftig mehr als zwei Geschlechter geben müsse – also mehr als Männer, besser bekannt als „Fußballexperten“, und Frauen, die davon „natürlich keine Ahnung“ haben. Die Parteien von Die Linke bis CDU/CSU haben darauf recht souverän oder gar nicht groß reagiert. Aber wie gehen eigentlich manche, vorzugsweise männliche, Journalisten diverser Medien in Zukunft damit um, dass die Karlsruher Richter sogar an der Abschaffung der Geschlechter rütteln?

Wahrscheinlich waren einige so verwirrt, dass sie dem Aufsichtsrat von Mainz 05 plötzlich rein zufällig in dieser Woche ganz krude Fragen stellten. Denn 2017 hat sich noch etwas Wunderbares getan: Die Mitglieder des eingetragenen Fußballsportvereins von 1905 haben dafür gesorgt, dass ab sofort ein Fanvertreter in den Aufsichtsrat entsendet wird, sofern er von der Mehrheit der anwesenden Mitglieder bestätigt wird. Und dass dieser Fanvertreter Nähe zu den Fans zeigt, in dem er bei Auswärtsspielen im Gästeblocksteht (wo denn sonst?)… Sachen gibt’s. Da muss natürlich investigativ nachgefragt werden, warum dieser Fanvertreter gar nicht auf die Idee kommt, im proppevollen Block bei den Lilien den Versuch zu unternehmen,den weder Security noch Feuerwehr wagen, Fackeln zu löschen. Warum, fast ein Jahr nach dem Spiel in Darmstadt, ausgerechnet in der Woche vor der Wahl darauf herumgeritten wird? Zeitgleich fragt ein anderes Medium, was ein Kandidat bzw. eine Kandidatin vom Fußball eigentlich versteht? Wahrscheinlich hat dieses Medium erstens nicht mitbekommen, dass wir nicht den Sportvorstand wählen. Zweitens würde dieses Medium Rouven Schröder sicher nicht fragen, was er vom Tischtennis oder vom Handball versteht und drittens war Harald Strutz meines Wissens erfolgreicher Leichtathlet und kein Fußballexperte. 1970 lässt grüßen!

Es gab in 2017 noch etwas wunderbares, was es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Aufgrund der Zündelei in Darmstadt wurde schließlich von den damals handelnden Personen bei Mainz 05 beschlossen, den Ultras keine Karten mehr für Auswärtsspiele zukommen zu lassen. Sprich in höchster Not im Abstiegskampf entschloss man sich für Kollektivstrafen und dafür, eine große Gruppe von Menschen, für etwas büßen zu lassen, das Einzelne begangen haben. Was das für das Gerichtigkeitsempfinden junger Erwachsener für Auswirkungen hat, war anscheinend zweitrangig. Außerdem war diese Maßnahme entweder reine Symbolik, um Home-Pöbler zu besänftigen (dazu später mehr), oder man war so naiv zu glauben, dass diese Maßnahme tatsächlich greift – was natürlich auch etwas über die „Fannähe“ aussagt. Die Maßnahme griff bekanntlich nicht – denn ansonsten würden wir womöglich diese Saison gegen K-Town statt dreimal gegen Bembel-Town spielen. Denn wer stieg in Ingolstadt da nochmal runter vom Zaun und machte die rot-weißen Jungs so richtig heiß auf den Abstiegskampf? Es war keine der handelnden Personen im Verein, die das vielleicht wesentlich professioneller hinter den Kulissen taten – aber genau dieser Funke (Achtung: feuergefährlich) musste hin und her springen – in der Öffentlichkeit – zwischen Mannschaft und Fans. Und das war unbestritten ein Verdienst eines Mitglieds der Ultras, die an einem Sonntag Nachmittag nach Oberbayern fuhren, statt Nullfünf am Fernseher zu konsumieren und über das Ergebnis im Anschluss genüsslich zu meckern. Wunderbar!

Dass nun plötzlich alle gegen Kollektivstrafen sind, ist ja schön undgut. Aber das entscheidet glaube ich auch ein Vorstandsvorsitzender nicht alleine. Daher wählen wir am Sonntag auch keinen Allmächtigen – auch wenn das immer noch viele Männer im Fußball glauben, wenn man den Artikel vom Donnerstag in der AZ liest, in der der BVB-Boss dafür plädiert, dass einer der Kandidaten „den Laden wieder in Ordnung“ bringen soll. Herr Watzke sollte allerdings mitbekommen haben, dass es in Mainz demokratische Vereinsstrukturen gibt, in denen der den Laden in Ordnung bringen sollte, der die Mehrheit der anwesenden Mitglieder in einer entsprechenden Versammlung hinter sich bringt und nicht durch schwarz-gelbe Absolution – auch wenn es echte Liebe ist. Für die Demokratie wäre es hilfreich, wenn alle sich an diese Spielregeln halten würden, gerade wenn man Ultras vorwirft, sich nicht an Spielregeln zu halten, wenn diese im Stadion Pyro abbrennen. Man kann durchaus seit der Trump-Wahl ein wenig Angst vor der Macht der Mehrheit bekommen. Nur, egal ob in den USA oder in Mainz, wenn die Mehrheit der Meinung ist, dass die Alternative für sie keine Alternative ist, dann sollte diese Alternative dafür sorgen, entsprechende mehrheitsfähige Angebote zu unterbreiten – was im Umkehrschluss ausdrücklich nicht bedeutet, sowohl in den USA und in Mainz, dass der Wahlgewinner automatisch das Beste für Land bzw. Verein ist. Natürlich war im Nachhinein die Wahl von Kaluza alleine schon deshalb nicht der Knaller, weil wir am Sonntag schon wieder zur Wahl gebeten werden. Bei der Wahl am Sonntag tritt auch eine personifizierte Übergangslösung an. Vielleicht hat der Verein genau diese Übergangslösung nach der Ära Strutz gebraucht – aber vielleicht eher im Sommer 2017 für ein paar Monate als jetzt im Winter 2018 für drei Jahre – aber, das sollen einfach die anwesenden Mitglieder am Sonntag entscheiden.

Ich frage mich ganz ehrlich, was die Medien reitet, sich in solche ur-demokratische Entscheidungsprozesse einzumischen. Das Offenlegen der Definition des Ehrenamts à la Nullfünf und die Bezahlung dessen in Bezug auf den Vorgängers Kaluzas ist ein großer Verdienst der Medien – chapeau! Aber schon bei der Wahl des Aufsichtsrats im Sommer hat sich dann eine große Mainzer Tageszeitung nicht mit Ruhm bekleckert, als deren Verlagsangehöriger seine Kandidatur für den Aufsichtsrat nach Kaluzas Sieg zurückzog und mehre Medien den Ultas die „Schuld“ am Ausgang der Vorstandswahl gegeben haben. Hätte hätte Fahrradkette – aber, wenn er damals das demokratische Mehrheitsprinzip akzeptiert hätte, dann würde er womöglich jetzt im Aufsichtsrat Kontrolle ausüben. Womöglich auch die Kontrolle darüber, ob und wen der Aufsichtsrat ins Rennen um den Vorstandsvorsitz schickt. Die AZ hat vielleicht daraus gelernt, denn aktuell wird sachlich berichtet, ohne mit Schlamm in die Schacht der Lesergunst zu ziehen. Dafür fühlen sich jetzt andere Magazine berufen, ein Watergate am Rhein aufzudecken. Dafür wird auch eine Kollegin der Zunft zur Fan-Kolumnistin herabgestuft. Dass es sich dabei um eine Frau handelt – vielleicht Zufall – in einer von Männern dominierten Sparte des Journalismus vielleicht auch nicht. Nur sollte sich das Fachmagazin lieber wieder um Torwartkanonen und um die Elf des Spieltags kümmern, wenn man noch nicht einmal korrekt zitieren kann, denn so lässt es sich so viel schöner tendenziös berichten.

Viele 05-Sympathisanten bekommen es leider nicht auf die Kette, Mitglied zu werden. Und die mehr als 10.000 Mitglieder bekommen es nicht auf die Reihe, auswärts zu fahren, auch wenn es nur in Gefilde des SV Gonsenheim geht, um in der Halle 45 ihre Stimme abzugeben. Es ist doch so viel kuscheliger vor dem PC zu sitzen, lebenslanges Stadionverbot für Pyromanen zu fordern, Sandro rausschmeißen zu lassen und den rot-weißen Jungs kollektive Arbeitsverweigerung zu attestieren. Wir haben mehr als 10.000 Mitglieder und eigentlich müssten wir mal wieder nach Bembeltown ausweichen, wie anno 2005 für den UEFA-Cup, um alle Mitglieder unter ein Dach zu bekommen, wenn es um die Wahl des Vorstandsvorsitzenden geht. Aber wahrscheinlich wird am Sonntag selbst die Halle 45 nicht aus allen Nähten platzen – trotz dieser subtilen Mobilisierungsversuche, die ja ganz nett wären, würde es dem hehren Zwecke dienen, mehr Leute an die Wahlurne zu bewegen – egal, wen man da wählen möchte. Wem das Ergebnis im Nachhinein nicht passt, der schiebt es einfach auf die, die alle zwei Wochen durch die Republik düsen, die Mannschaft zum Großteil bedingungslos unterstützen und sich im Verein engagieren. Aber vielleicht gibt es ja noch Lernfähige unter den das letzte Mal daheim gebliebenen Mitgliedern, die sich aus der Komfortzone des Flatrate-Motzens rausbewegen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Denn ich bin schlicht und einfach dafür, am Sonntag die Demokratie in unserem Verein hochleben zu lassen, wählen zu gehen und das Ergebnis zu akzeptieren – schließlich wird sicherlich kein Videobeweis dafür benötigt.Und dann lasst uns mit dem neuen Aushängeschild unseres Vereins gemeinsam den Abstiegskampf angehen, damit hier auch weiterhin alles im Lot bleibt. Und lasst uns als Mitglieder, wenn es die anwesende Mehrheit möchte, an diesem Tag Fußball-Geschichte schreiben.

Sierra Leone 2017

Vorfreude ist sicherlich die schönste Freude und so durfte ich mich auf die Reise nach Westafrika in das kleine Land Sierra Leone seit dem Sommer 2017 freuen. Damals hatten wir „Somebody“ ein Schimpansenweibchen im Tacugama Chimpanzee Wildlife Sanctuary „adoptiert“ und fanden die Möglichkeit, unser „Kind“ nicht nur finanziell zu unterstützen sondern auch persönlich zu besuchen extrem spannend.


Schließlich stellt sich die Frage, was wir mit Sierra Leone verbinden: Ebola ist sicher jedem ein Begriff und an den Bürgerkrieg um Blutdiamanten, der mit Kindersoldaten ausgefochten wurde, kann sich vielleicht die eine oder der andere auch noch erinnern. Aber wie sieht es in diesem Land mittlerweile aus? Von Flüchtlingen aus Sierra Leone hört man in Deutschland gar nichts und im Weltspiegel habe ich seit dem Ende von Ebola auch keinen Bericht mehr gesehen. Das Auswärtige Amt stellt nüchtern fest „Für dieses Land besteht derzeit kein landesspezifischer Sicherheitshinweis.“ – daher wird wohl in den Medien auch nicht darüber berichtet. Schließlich existieren die meisten der 195 Länder, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, medial schlicht nicht, wenn sich dort keine Naturkatastrophe ereignet, sich niemand in die Luft sprengt, dort eine Seuche ausbricht, die auch uns in der westlichen Welt gefährlich werden könnte, oder sonst etwas Schlimmes passiert.

Am Lumley Beach von Freetown
Am Lumley Beach von Freetown

Dass mal explizit über etwas Gutes berichtet wird oder über Länder, an denen wir uns in Deutschland ein Beispiel nehmen könnten, ist leider die Ausnahme. Es dreht sich die Berichterstattung mehr oder weniger immer wieder um dieselben ca. 20 bis 30 Länder: Die USA geht immer, egal wer da an der Macht ist, Mexiko als Beispiel für den Drogenkrieg nachdem diese Geschichte in Kolumbien nicht mehr so funktioniert, Kuba für Kommunismus-Romantiker, Brasilien als Beispiel für Korruptionssumpf und Südafrika als Beispiel, wie zu große Erwartungen zum Scheitern verurteilt sind. Der Nahe Osten als Drama geht immer, da dort seit Jahrzehnten die Hütte brennt, und Korea geht neuerdings wieder gut – dem kindischen Wer-hat-den-größeren-Knopf-Vergleich sei Dank. Und die Volksrepublik China als zukünftige beherrschende Weltmacht rückt genauso wie das Russland Putins immer mal wieder in den Fokus, aber die restlichen 165 Staaten unserer Welt? Die fallen irgendwie durchs Raster der Berichterstattung.


Also ab ins Impfzentrum, die notwendigen Spritzen setzen lassen, das Visum-Formular ausfüllen und den Pass nach Berlin zur Botschaft Sierra Leones schicken. Schließlich bin ich der Meinung, dass es noch genügend andere Länder auf diesem Planeten gibt, über die ich etwas erfahren möchte. Wenn man darüber nichts erfährt, heißt das ja nicht, dass es dort nichts zu sehen gibt. Als der Pass nach ein paar Tagen mit der Visum-Nummer 47 bzw. 48 ohne Zusatz der Jahreszahl zurückkam, schwante mir schon, dass es wohl nicht so viele Menschen nach Sierra Leone zieht. Dieser Umstand steigerte in mir weiter die Neugierde auf dieses Land. Schließlich war ich in dieser Region 1999 das letzte Mal unterwegs gewesen und hatte damals schon gehofft, es mal irgendwann wieder nach Westafrika zu schaffen.

Der Vorort Aberdeen bei Freetown
Der Vorort Aberdeen bei Freetown

Der Landeanflug im Licht der untergehenden Sonne war eine schöne Einstimmung auf Afrika. Minutenlang schwebten wir über unberührten Mangrovensümpfen der Landebahn entgegen. Während an anderen Flughäfen die Umgebung hell beleuchtet ist, war es hier stockfinster und ein weiteres Flugzeug vor dem kleinen Terminal des Lungi International Airport war gar nicht auszumachen. Die Treppe wurde herangerollt – Fluggastbrücken wären hier die pure Dekadenz – und raus ging es in die afrikanische Schwüle.


Hatte ich mich im Oktober 2017 in Armenien noch darüber echauffiert, dass Geldautomaten grundsätzlich immer nur die höchsten Scheine ausspucken, galt dies zwar auch hier für die Geldwechsler, aber der höchste Geldschein (10.000 Leones) entspricht leider nur 1,25 € und somit erhielt ich für meine 100 € mehrere Geldbündel mit 10.000er und 5.000er Leones-Noten, schön verpackt in einem Briefumschlag, der sich aber aufgrund des Volumens der Geldscheine gar nicht schließen lassen konnte. Wie in einem Mafiafilm stopfte ich die Kohle in die Tasche und weiter ging es zur Gepäckausgabe. Die Passagiere wühlten auf dem Gepäckband alle Koffer und Taschen umher und so flog mein Rucksack vom Band – leider auf die Innenseite, so dass ich in einem Spagat bei laufendem Band versuchen musste, mir das gute Stück zu angeln. Unter großem Gelächter der umstehenden Leute gelang dies mir schließlich, und es ging hinaus aus dem kleinen Flughafen.

Der Anleger am Lungi-Airport
Der Anleger am Lungi-Airport

Wie an vielen Flughäfen der Welt standen dort Abholer und Geschäftemacher herum, aber wir wurden nicht belagert und mit „Taxi, Taxi“-Geschrei konfrontiert. Nein, es war tatsächlich möglich, zu fragen, wo Lamin sei, der uns abholen sollte. Dieser sei gerade unterwegs, wir sollten uns einfach dort hinten hinstellen und warten. Ein paar Sekunden später kam Lamin tatsächlich und organisierte unsere Weiterfahrt. Der Lungi Airport steht vielleicht ein wenig stellvertretend für das ganze Land Sierra Leone: Es ist nicht so einfach hier herum zu kommen, doch es funktioniert am Ende alles und es macht alles einen guten Eindruck auf uns. Konkret hieß dies hier, Lamin besorgte uns die Tickets für den Sea Coach Express – ein Wassertaxi, das uns über die riesige Tagrin Bucht direkt nach Freetown bringen sollte. Das Gepäck wurde in Jeeps geladen und auf einem separaten Boot in die Stadt gebracht. Wir durften uns jetzt zwischen „Orange“ und „Africell“ entscheiden, denn Roaming mit T-Online, Vodafone und Co. gibt es nicht. Gleichzeitig läuft in Afrika vieles über Telefon, so dass ein funktionsfähiges Handy unabdingbar ist.


Dann ging es schon ab in den Shuttle-Bus, der uns zum Anleger brachte. Im Wassertaxi lief dann zu meinem Erstaunen im Fernsehen Championsleague. Später merkte ich, dass eigentlich immer Fußball im Fernsehen gezeigt wurde, sogar das Pokalspiel von Mainz 05 gegen Stuttgart und das in Sierra Leone. Die Nullfünfer (hier Zerofivers) kannten alle Fußballinteressierten selbstverständlich, obwohl die Präferenz immer in Richtung Premier League ging und wenn dann Deutschland dann natürlich immer der FC Bayern, nun ja. Leider ist der Spielbetrieb im eigenen Land seit 2014 ausgesetzt, wegen der verheerenden Ebola-Epidemie. Rein theoretisch wäre es längst wieder möglich zu spielen, meinte später einer unserer Fahrer, aber die Verbandspräsidentin und die sie umgebende Männerriege haben es bisher nicht hinbekommen. So bleibt den Fußballbegeisterten in Sierra Leone nur der Kick am Strand, der sonntags insbesondere an den Stränden von Freetown mit Begeisterung zelebriert wird.

Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge
Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge

Am Fähranleger stand schon unser Gepäck bereit und weiter ging es mit einem Taxi-Jeep ins Hotel. Für die 2,5 km lange Fahrt wurden umgerechnet 9 € fällig – hätten wir das im Voraus online gebucht, wären uns sogar 20 US$ oder über das Hotel 37 US$ berechnet worden. So bekamen wir schon eine Vorahnung, dass erstens diese Reise nicht gerade günstig werden würde und es einfach meist totaler Quatsch ist, jede Dienstleistung vorab zu buchen. Wie in jedem Reiseführer über die Tropen empfohlen, hielten wir uns tatsächlich mal dran, am nächsten Tag nichts großes zu machen, außer meiner „Lieblingsbeschäftigung“ für die nächsten Wochen nachzugehen: Dem Geld besorgen! Wir waren mit recht viel Bargeld ausgestattet, weil wir das Liquiditätsproblem bereits bei der Reisevorbereitung mitbekamen, aber dass es tatsächlich einem Glücksspiel glich, im Geldautomaten den Jackpot zu knacken und mal 30 oder 40 Scheine zu erhalten (was dann ca. 35 bis 45 € entsprach), das überraschte mich dann doch. Im Umfeld des Hotels gab es insgesamt 3 Geldautomaten und bei insgesamt ca. 20 Versuchen, gelang es uns tatsächlich zweimal Geld abzuheben! Mit der Kreditkarte zu bezahlen war außerhalb von Freetown auch nicht möglich, so dass dieser Trip auch buchhalterisch echt spannend werden würde.


Saidhu unser Fahrer des riesigen Nissan Patrol, wartete am nächsten Tag schon eine Stunde vor der mit seinem Boss vereinbarten Abfahrtszeit vor dem Hotel auf uns. Dafür hielt es sein Chef für nicht notwendig, Saidhu zu erzählen, dass wir die nächsten vier Tage „upcountry“ vorhatten zu fahren, und nicht abends wieder in Freetown zurück sein wollten. Unser Ziel, das Naturreservat Tiwai Island, kannte Saidhu auch nur vom Hörensagen. Mein Optimismus, leicht und locker die 350 km innerhalb von 4 bis 5 Stunden zurückzulegen verflüchtigte sich dementsprechend ganz schnell. Natürlich war es vollkommen ok, dass wir als Erstes zu Saidhu nach Hause fahren, damit dieser sich ein paar Klamotten holen konnte, bevor es auf die große Reise ging. Anscheinend wollte er auch noch ein paar Worte mit seinem Chef wechseln, denn als nächstes fuhren wir zu Cerra Automotive – unserem „Vermieter“. Mietwagen im klassischen Sinne gibt es in Sierra Leone noch nicht. Es werden ausschließlich große Geländewagen mit Fahrer feil geboten. Angeblich würden die Einheimischen so chaotisch fahren, dass es Ausländern nicht zugemutet werden kann, selbst zu fahren. Darüber kann man geteilter Meinung sein, denn hier wurde nicht anders gefahren als auf Mauritius, Indonesien oder in Argentinien – Ländern, in denen ich selbst schon hinterm Steuer saß. Aber natürlich generiert diese Vorgabe Jobs und mit Saidhu unterwegs zu sein, war sehr angenehm. Zwar war irgendwie nicht wirklich abgeklärt, wer für die Übernachtung des Fahrers und seine Verpflegung aufkommen sollte, da es zunächst hieß, wir sollten das übernehmen, später hieß es dann, die Mietwagenfirma übernimmt das. Diese Ungewissheit zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Reise in Sierra Leone – man wusste nicht immer über alles Bescheid. Wir gewöhnten uns notgedrungen an diese ständig neuen Situationen, in denen wir nicht wussten, wie es jetzt weitergeht. Daher sei einem Reisenden, mit Hang zum Kontrollwahn, eine Reise nach Sierra Leone vielleicht nicht unbedingt zu empfehlen.

Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma
Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma

Schließlich ging es dann endlich raus aus Freetown – auf gut ausgebauter Straße! Schon im Flugzeug sind mir die vielen asiatisch aussehenden Passagiere aufgefallen. Und Saidhu erklärte auf meine Frage, wer diese gute Straße gebaut hat, dass die Chinesen das ganze Land mit guten Straßen überziehen. Später bekamen wir diese Baumaßnahmen dann hautnah mit: In hellblauer Arbeitskleidung und einem überdimensionierten Sonnenhut gaben die Chinesen auf der Baustelle die Anweisungen, die von den Sierra-leonischen Arbeitern umsetzt wurden. Später wurden wir wieder überrascht: die Straßen konnten nicht umsonst genutzt werden. Die fällige Straßenbenutzungsgebühr wurde an drei Mautstationen im Abstand von 20 km eingezogen – mit modernster Technik: Kameras scannten das Nummernschild und wir erhielten ein Quittung – wie überall in Sierra Leone! Und auf dieser war sogar die Mehrwertsteuer ausgewiesen! Schon vor der Landung hatte mich Sierra Leone überrascht. Diese dämlichen Einreisekarten mussten wir nicht ausfüllen. Und am Einreiseschalter wurde ein Bild von uns gemacht, Fingerabdrücke genommen und die Fragen, die wir sonst auf den Einreisekarten zu beantworten hatten, wurden direkt in den Computer eingetippt. Ich bin zwar kein Freund von Datensammlungen aber was die Technik angeht, können sich da ein paar Länder eine Scheibe von Sierra Leone abschneiden.


Die 250 km nach Bo, in die zweitgrößte Stadt des Landes, verlief komplett ereignislos. Allerdings war es herrlich, durch Palmenhaine und Grasland zu cruisen, kaum menschliche Behausungen zu passieren und auch auf wenig Verkehr zu stoßen. Das erinnerte mich alles ein wenig an die Reise von Buenos Aires nach Iguazu durch den Norden Argentiniens vor ein paar Jahren. In Asien ist es leider kaum noch möglich, durch menschenleere Gebiete ohne Dauersmog zu reisen. In Bo angekommen, ging ich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nach, dem Geld Besorgen: Dieses mal beim Libanesen im Tante Emma Laden! Die Libanesen sind in Sierra Leone und weiten Teilen Westafrikas für den Handel zuständig. Und dazu gehört auch Geld tauschen…unter der Ladentheke – und das zu einem sagenhaft guten Kurs! Geldautomaten gab es in Bo natürlich aber nicht.

Überfahrt über den Moa-Fluss
Überfahrt über den Moa-Fluss

Im besten Hotel am Platz, das uns mit Müh‘ und Not Falafel machen konnte, erkundigte sich Saidhu nach der besten Route nach Tiwai Island. Ihm wurde die Strecke empfohlen, die auch unser Navi suggerierte, während der Lonely Planet, eine andere Strecke empfahl – allerdings für Leute, die mit Bus und Motorradtaxi unterwegs waren. Tiwai Island ist, wie es der Name schon sagt, eine Insel, abgeschieden gelegen im Süd-Osten Sierra Leones, kurz vor der Grenze zu Liberia. Abhängig von der gewählten Route, kommt man also westlich oder östlich der Insel an. Dass dieser Umstand noch sehr entscheidend für die spätere Abendgestaltung werden würde, hatten wir in Bo noch nicht auf dem Schirm. Zunächst waren wir wieder positiv überrascht, dass sich auch die Straße ins 70 km entfernte Kenema in einwandfreiem Zustand befand. Doch die letzten 47 km hatten es dann in sich.


Ich zweifelte schon daran, warum in Sierra Leone eigentlich alle Organisationen mit solch monströsen Geländewagen unterwegs waren, aber die Strecke bis Mapuma belehrte mich, dass hier doch alles Sinn und Zweck hat, zumal wir in der Trockenzeit unterwegs waren. Unbefestigte Straßen sind, wenn es nicht geregnet hat, im optimalen Zustand fast so angenehm zu befahren, wie Teerstraßen. Wenn die Regenzeit aber erst wenige Wochen zurückliegt und in Sierra Leone glücklicherweise, die Regenzeit ihrem Namen noch alle Ehre macht, dann bekommt man einen Eindruck, wie die Buckelpiste nach Mapuma erst im nassen Zustand nahezu als unpassierbar daher kommt. Für diese Marathondistanz haben wir dann praktisch genauso lange gebraucht, wie die afrikanischen Dauerläufer, etwas über 2 Stunden! Im Licht der untergehenden Sonne erreichten wir Mapuma und im Dorf wusste gleich jemand Bescheid, was Tiwai Island sei – das war die Kilometer davor nicht der Fall. Saidhu wollte sich anfangs mehr oder weniger in jedem Dorf vergewissern, auf der richtigen Route unterwegs zu sein und weniger auf das Navi vertrauen. Da die Kenntnisse der Passanten aber doch recht dürftig ausfielen, verließ er sich dann doch mit zunehmender Entfernung von der Teerstraße auf das Navi, was sich tatsächlich mal im afrikanischen Busch bewährte.

Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht
Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht

Ruck zuck standen zwei kräftige Männer bereit, die letzten paar Hundert Meter mit uns bis zum Fluss im Auto zurückzulegen. Unsere Rucksäcke wurden auf zwei Einbäume getragen und mit Saidhu machten wir eine Abholzeit aus, zu der er wieder in Mapuma vorbeischauen sollte – schließlich benötigten wir ihn die nächsten 3 Tage nicht und da seine Mutter in Kenema lebte, schlugen wir ihm vor, doch einfach mit dem Auto dorthin zu fahren, wenn er Lust auf Familienbesuch hätte. Wir stiegen in die Boote und ließen uns von den Jungs in den Sonnenuntergang paddeln. Dass diese Macheten dabei hatten, fiel mir erst auf, als sie unsere Rucksäcke schulterten und auf den Trampelpfad in den Dschungel einbogen. Mit Taschenlampen bewaffnet ging es über Stock und Stein an Lianen vorbei in die Dunkelheit. Ich wollte partout die Frage vermeiden, wie weit es eigentlich bis zum Visitors Centre sei, doch nach einer halben Stunde des Nachtwanderns überkamen mich dann doch erste Zweifel. Wir liefen gerade durch die finstere Nacht mitten in Westafrika, vor uns und hinter uns zwei kräftige junge Männer in Gummistiefeln mit Macheten „bewaffnet“. Plötzlich stoppten die beiden…es galt nur einen kleinen Flusslauf zu queren. Dafür wurden wir beide Huckepack genommen – damit wir keine nassen Füße bekamen.


Nach rund einer Stunde, kamen wir auf einer Lichtung an und sahen im Dunkel zwei Gebäude: die Research Station! Hier übernachteten zu anderen Zeiten mal Wissenschaftler, um die Besonderheiten von Tiwai Island zu erforschen: Zwerg-Flusspferde und insgesamt elf Primaten-Arten! Es gibt wenige Flecken auf unserer Erde, die durch so einen Artenreichtum an Affen bestechen, wie Tiwai Island. Dass wir jetzt in stockfinsterer Nacht vor den verschlossenen Gebäuden standen beunruhigte mich jetzt doch ein wenig, aber ich wusste, dass es noch ein paar Hundert Meter zum Visitors Center sind. Und irgendwann würde man sicherlich den ersten Lichtschein des Visitors Centers entdecken. Nach weiteren 15 Minuten die nächste Lichtung. „This is the Visistors Center!“ sprach einer unserer beiden Begleiter aus. „Was, hier ist doch keine Sau!“ dachte ich mir und sprach es wohl auch so aus. Diese Verzweiflung musste doch irgendwie raus. Wo sind eigentlich die ganzen Leute, die auf der Webseite so nett mir entgegen blickten und die wussten, dass wir heute hier ankommen sollten?

Überfahrt im Einbaum
Überfahrt im Einbaum

Unsere Begleiter bliesen natürlich alles andere als Trübsal und schalteten das Licht an. Eine große Schutzhütte mit Tisch und Stühlen kam zum Vorschein. Dann sprang schon einer der beiden in Richtung Büsche und knipste eine weiter Lampe an: Die Häuschen mit Klo und Dusche, schön getrennt nach Weiblein und Männlein! Im Lichtschein konnten wir nun auch weitere Gebäude erkennen und mehrere Unterstände, in denen Zelte aufgebaut waren. Einer unserer Begleiter sprintete direkt weiter. Er sollte die Leute aus dem Dorf Kambama holen, das westlich von Tiwai Island liegt. Jetzt ging mir endlich auch ein Licht auf. Hier wird tatsächlich nur das Touriprogramm hochgefahren, wenn es Touris gibt. Macht ja auch Sinn! Nur dass wir donnerstags abends in der Hauptsaison die einzigen Gäste sind, hatten wir nicht bedacht. Und dass man normalerweise in Kambama und nicht in Mapuma ankommt, wenn man hierher möchte, und dann die Einheimischen automatisch wissen, dass Gäste kommen, ist auch einleuchtend.


Wir duschten und machten es uns gemütlich, soweit das eben auf Plastikstühlen bei 30° C in den Tropen geht. Nach einer weiteren Stunde hörten wir plötzlich Stimmen und insgesamt kamen 11 Dorfbewohner an, um uns zu versorgen. Sie entschuldigten sich zunächst, dass ihnen leider niemand Bescheid gegeben hatte – die Reservierung ist wohl in Freetown hängen geblieben. Uns wurde ein Zelt zugewiesen, nachdem dieses nochmal so richtig mit Mückenschutz voll gesprüht wurde. Auf unsere Frage hin, ob wir noch etwas zu essen bekommen könnten und möglichst vegetarisch, wurde uns tatsächlich noch Spaghetti mit Tomatensoße kredenzt. Und für 7 Uhr am nächsten Tag vereinbart, einen Waldspaziergang zu machen! Was für ein Tag!

Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag
Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag

Nach einer sehr angenehmen Nacht mit allerlei unbekannten Naturgeräuschen, stand morgens um 7 tatsächlich unser Guide am Visitors Center. Nach einem obligatorischen Kaffee ging es auf die Pirsch, um einige der elf Primatenarten in den Baumwipfeln von Tiwai Island zu entdecken. Die Umgebung des Visitors Centers wurde mit schachbrettartigen Pfaden angelegt, die es den Besuchern möglich machten, im Dickicht des Dschungels einigermaßen voranzukommen, um bspw. die Red Colubus Gruppe im ersten Licht der Sonne zu beobachten. In Kopfhöhe beeindruckten riesige Spinnen mit ihren Netzen und der Spaziergang war die reinste Erholung. Danach gab es im Visitors Center Pfannkuchen. Für Nachmittags wurde eine Fahrt auf dem Fluss vereinbart und die meisten Dorfbewohner verließen das Visitors Center wieder, bis auf einen alten Herrn, der an der langsam abkühlenden Feuerstelle verharrte. Gegen Mittag stellten wir uns die Frage, wann es eigentlich Mittagessen gäbe. Der alte Mann konnte nur sehr wenig Englisch und es war irgendwie überhaupt nicht aus ihm herauszubekommen, ob, wann und was es gäbe. So gegen halb zwei hatten wir unser Mahl schon aufgegeben, als plötzlich Stimmen zu hören waren und unser Mittagessen in Töpfen gebracht wurde. Es gab Vollkornreis mit herrlich scharfer Gemüsesoße: veganes Sierra-leonisches Homecooking! Wir waren wieder mit der Welt versöhnt.

Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking
Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking

Nachmittags ging es dann den Fluss aufwärts mit dem Ruderboot. Die herrlichen Naturgeräusche wurden plötzlich von Bässen und elektronischer Musik übertrumpft. Ein Dorffest stand in Kambama an. Ob wir sie begleiten wollten, fragte uns schon der Bootsführer. Die Musik war alles andere als Getrommel, was wir im allgemeinen unter afrikanischer Musik verstanden. Die Mucke war so la la – aber uns musste sie ja auch gar nicht gefallen. Allerdings hatten wir schon ein wenig Angst vor der kommenden Nacht. Denn die Lautsprecher taten ihr Bestes, um die gesamte Gegend in ohrenbetäubender Lautstärke zu beschallen. Wir haben ja mit ziemlich viel gerechnet, aber dass uns mitten in der Pampa Westafrikas womöglich der Schlaf aufgrund von Bässen geraubt werden würde, war dann doch eine skurrile Vorstellung. Doch damit nicht genug. Nachdem uns gegen halb sieben das wieder leckere Essen kredenzt wurde, verabschiedeten sich auch die letzten Dorfbewohner inklusive des älteren Herren, der den ganzen Tag hier ausgeharrt hatte. Sie würden später nach dem Fest wieder kommen, wurde uns noch mitgeteilt und ruck zuck war es mucksmäuschenstill. Wir waren von der Situation dermaßen überrumpelt, dass wir nur kurz Bye Bye sagen konnten und das Essen zunächst genossen. Mit der Zeit fing dann bei uns doch das Kopfkino an, seinen Film abzuspulen. Wir befanden uns alleine auf einer Insel in Sierra Leone, ohne Boot, ohne Brücke sprich ohne physische Verbindung zur Außenwelt. Auch das Mobiltelefon funktionierte hier nicht, trotz Africell-SIM-Karte. Folglich kamen wir hier ohne fremde Hilfe nicht mehr weg. Doch es galt ja jetzt fürs Erste die kommende Nacht zu überstehen…