Konsequent inkonsequent

Die letzte Woche waren Tage der Wahrheit für den 1. FSV Mainz 05. Schließlich zeigte sich anhand der Kommunikation durch die Vereinsführung, welche Prioritäten sie setzt. Besonders anschaulich wurde dies durch das Statement am Dienstag „Testspiel gegen Newcastle findet statt“ dargelegt. In diesem wird klar und deutlich verkündet, dass es um das Sportliche und das Finanzielle geht.

„Ein Testspiel gegen einen englischen Traditionsklub ist für uns zunächst ein sportliches Kräftemessen.“, sagt Präsident Stefan Hofmann. „Der Verein trage aber vor allem auch die Verantwortung, dem Sport eine optimale Vorbereitung zu ermöglichen. Die Partie sei neben der Begegnung gegen Athletic Bilbao die einzige richtige Testmöglichkeit für die Nationalspieler, die erst im Trainingslager in die Vorbereitung einsteigen.“  Und weiter „Aus sportlicher Perspektive können wir auf dieses Testspiel nicht verzichten.“

Es steht und fällt also angeblich alles mit diesem Testspiel. Das ist meiner Meinung nach arg übertrieben, denn wenn Newcastle eine B-Elf auf den Platz bringt oder die „Magpies“ ausgebrannt vom Training am Morgen sind, was in Trainingslagern durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dann hat dieses Spiel am Ende auch keinen Einfluss auf eine optimale Saisonvorbereitung. Ich erinnere nur ungern an das Testspiel 2006 gegen Liverpool (*singan* „Tobi Damm ist besser als der Thurk“ *singaus*), das 5:0 gewonnen wurde. Danach folgte in der Hinrunde noch genau ein Sieg und im darauffolgenden Mai der Abstieg. Von daher sind das Phrasen, die es zu publizieren gilt, wenn eigentlich etwas Anderes im Vordergrund steht – das Finanzielle nämlich.

Dieses ist sicherlich nicht nur in Mainz die Priorität im Profifußball. „Eine einseitige Absage durch uns, wie von manchen Fans gefordert, ist nicht denkbar, da diese aufgrund der vertraglichen Verpflichtungen gravierende juristische und wirtschaftliche Folgen für uns haben könnte und wir grundsätzlich zu unseren vertraglichen Vereinbarungen stehen.“, sagt Christian Heidel. Sprich, es würde den Verein viel Geld kosten, das Testspiel abzusagen. Umgekehrt versucht der Verein möglichst viel Geld durch Sponsoring einzunehmen. So wurde ebenfalls letzte Woche der Sponsoring-Vertrag mit dem chinesischen Wettanbieter zum zweiten Mal um ein Jahr verlängert.

Wenn man sich die Finanzen von Mainz 05 anschaut, dann stellt man fest, dass zum abgelaufenen Geschäftsjahr 2020/21 im Vergleich zum Vorjahr das Fremdkapital bei Mainz 05 massiv gesunken ist (-48 Prozent). Sprich die Strategie von Mainz 05 ist, Schulden abzubauen. Das ist sehr löblich und in Rheinland-Pfalz nicht unbedingt Standard unter Profi-Fußballvereinen. Einen anderen Weg haben da übrigens zwei Vereine eingeschlagen, bei denen Mainz 05 bisher immer so ein bisschen um den einen oder anderen Spieler konkurriert hat. Der SC Freiburg hat im gleichen Zeitraum sein Fremdkapital um 58 Prozent erhöht. Und Union Berlin ist schon länger komplett überschuldet und muss hoffen, möglichst viel Kohle in der Europa League zu generieren. Von daher ist es wahrscheinlich Konsens unter den Mitgliedern des Vereins, dass der Weg, diese konservative Finanzstrategie zu gehen, zum Wohle des Vereins ist.

„Die Verantwortlichen haben in der Frage des Umgangs mit dem geplanten Testspiel ein differenziertes Meinungsbild innerhalb des Vereins wahrgenommen. Sie wollen die Diskussionen daher zum Anlass nehmen, im Rahmen eines Treffens mit Fanvertretern die grundsätzliche Haltung des Vereins zu erörtern und dabei auch das gemeinsame Verständnis des Leitbilds zu diskutieren.“

Mit diesen Worten endet das Statement zum Festhalten am Testspiel gegen Newcastle. Interessant ist auch, was in diesem Statement nicht vorkommt. Ein Eingestehen eines etwaigen Fehlers findet man schlicht nicht. Folglich sind die handelnden Personen davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Es wird also auch in Zukunft immer das Finanzielle die Priorität haben. Das Sportliche ist die Prio Nummer 2 und danach kommt dann „das Gedöns“, wie zum Beispiel das Leitbild, das die Mitglieder-Versammlung legitimiert hat. Daher wäre es naiv zu glauben, dass der Verein in Zukunft in einer ähnlichen Situation anders agieren würde, wie manche Kommentierende in den sozialen Netzwerken meinten. Die Chuzpe zu haben, ein Mitglieder-Votum einfach mal außen vor zu lassen, ist schon ziemlich starker Tobak. Dann aber gönnerhaft ein Gespräch mit den Fans anbieten, in dem das gemeinsame Verständnis des Leitbilds diskutiert werden soll, ist halt konsequent inkonsequent. Da wäre mir eine Aussage wie „das Leitbild ist Folklore, basta“ einfach lieber, weil es wenigstens ehrlich wäre.

Es ist anzunehmen, dass es den Macher*innen des Leitbilds darum ging, eine Art „Grundgesetz“ für den Verein zu entwickeln. Es ging um den „Mainzer Weg“ und darum, was Mainz 05 ausmacht. Denn in der Außenwahrnehmung der überregionalen Medien steht Mainz 05 für nichts – selbst wenn es ein Bo Svensson mit seiner Mannschaft hinbekommt, so eine sensationelle Rückrunde wie in der ersten Hälfte des Jahres 2021 zu spielen. Mainz 05 findet außerhalb Rheinhessens einfach nicht statt. Ich finde das nicht weiter schlimm und auch das ist wahrscheinlich Konsens bei den meisten Mitgliedern.

Es stellt sich allerdings jetzt heraus, dass dieses Leitbild für die Profi-Abteilung keine Relevanz hat. Dieses hat bei der Auswahl des Testspielgegners keine Rolle gespielt und es wird auch in Zukunft keine Rolle spielen. Das „differenzierte Meinungsbild“, was der Verein anspricht, meint, dass es dem Großteil der Mitglieder ziemlich egal ist, wem Newcastle gehört. Die wenigsten wussten das sicherlich vor der Bekanntgabe des Testspielgegners. Noch weitaus weniger Mitglieder wissen wahrscheinlich, dass laut Amnesty International Saudi-Arabien an einem Tag im März 2022 81 Menschen hat hinrichten lassen und dass Amputierungen Teil des Rechtswesens sind.

Man kann so als Verein agieren – keine Frage. Selbst mit diesem Hintergrundwissen werden wahrscheinlich aktuell die meisten Mitglieder der Meinung sein, dass das halt so ist im Profi-Fußball. Schließlich hat auch der Abschluss des Sponsoring-Vertrags mit dem chinesischen Wettanbieters 2020 nicht wirklich viele Mitglieder bestürzt.

„Die Reaktion von einigen Fans haben wir in dieser Form so nicht erwartet.“, so Stefan Hofmann im Statement zum Testspiel gegen Newcastle. Natürlich kann man das nicht erwarten, weil der Großteil der aktuellen Mainz 05-Mitglieder hochzufrieden ist. Seitdem der Don zurück ist, läuft es sportlich wieder rund. Und das ist ja Prio Nummer 2 (nach dem Finanziellen). Die Vereinsführung meint, so lange finanziell und sportlich alles rund läuft – ist alles paletti. Wofür Mainz 05 eigentlich steht – also so als Verein außerhalb des Finanziellen und des Sportlichen, hat für die Verantwortlichen keine Top-2-Priorität und fällt wohl ebenfalls in die Kategorie „Gedöns“. Dass es die Macher*innen des Leitbilds wahrscheinlich sind, die, wenn die Top-2-Prioritäten mal nicht so gut umgesetzt werden wie aktuell, dem Verein die Teue halten, hat man entweder bei der Vereinsführung nicht im Blick oder man legt keinen Wert darauf.

Vielmehr gilt es, das Stadion mit Zuschauer*innen zu füllen, die einzig und allein „nuff gehen“, weil es sportlich rund läuft. Dass es aktuell ein paar Kilometer den Nebenfluss hinauf, sportlich noch „ein wenig“ besser läuft und dass es in unserem Bundesland wieder zwei DFL-Mitglieder gibt und bei einem sportlichen Abwärtstrend von Mainz 05 die oben genannte Zielgruppe recht schnell ins Waldstadion oder zum Betze abwandert, ist den Verantwortlichen sicherlich bewusst.

Mantra-artig wird daher sicherlich in den nächsten Monaten jede Veränderung damit begründet werden, dass die Top-2-Prio (Finanzen, Sport) gefährdet seien. Egal ob es um eine Ausgliederung der Profiabteilung gehen wird, irgendwann um einen Investor und falls 50+1 kippt auch darum. Mit diesem Totschlag-Argument werden die Mitglieder „mitgenommen“, um den sportlichen und finanziellen Erfolg nicht zu gefährden und die Zielgruppe der Erfolgshungrigen nicht zu vergrämen.

Ich persönlich habe an dem Leitbild nicht mitgearbeitet, finde es aber gut herausgearbeitet. Allerdings passt dieses Leitbild einfach nicht zum Handeln der Vereinsführung. Wenn man ehrlich ist, sollte dieses Leitbild in der nächsten Mitglieder-Versammlung eingemottet werden. Schließlich kann es nicht für den Verein gelten mit Ausnahme der Profiabteilung. Das wäre halt konsequente Inkonsequenz.

Das ist allerdings der Status Quo. Und diese Strategie der konsequenten Inkonsequenz fährt der Verein schon ziemlich lang. Wenn es die Top-2 nicht tangiert, dann zeigt man sich solidarisch mit Schwächeren der Gesellschaft in Deutschland, nicht aber mit denen in Saudi-Arabien. Man entsendet gerne Mitarbeiter*innen auf Fridays for Future Demos, fliegt aber mit dem Flugzeug innerdeutsch – wahrscheinlich ohne Kompensation der klimarelvanten Emissionen. Man lädt die Caritas, die sich auch um Spielsüchtige kümmert, ins Stadion ein, schließt aber ein Sponsoring mit einem chinesischen Wettanbieter ab und so weiter und so fort.

Man kann das alles machen, so als Verein, also Partnerschaften mit Unternehmen aus Ländern mit einem anderen Wertesystem abschließen, innerdeutsch fliegen und Glückspielsponsoring – aber dann sollte sich der Verein andererseits nicht mit Feigenblättern schmücken. Denn ganz ehrlich, lieber steht mein Verein Mainz 05 für nix als für ein inkonsequentes Handeln. Dass die Verantwortlichen eines Vereins das unbequeme Votum einer Mitglieder-Versammlung auch umsetzen können, zeigt das Beispiel FC St. Pauli. Dort wurde 2016 beschlossen, dass das Merchandising fair und nachhaltig produziert werden soll. Daraufhin hat der Verein letztlich seine eigene Marke kreiert. Seit 2021 bietet er eine fair produzierte Teamsportkollektion an, die aus recyceltem Materialien besteht. Das ist Konsequenz.

Soweit sind wir bei Mainz 05 (noch) nicht. Ich bezweifele, dass eine Mehrheit der aktuellen Mitglieder bereit ist, finanzielle und sportliche Einbußen in Kauf zu nehmen, um das Leitbild auch in der Profiabteilung durchzusetzen. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Alles hinschmeißen und dem Verein und dem Profifußball die kalte Schulter zeigen? Das kann jede*r von uns nur persönlich entscheiden. Ich fühle mich immer noch im Verein und im Stadion wohl. Das liegt hauptsächlich an den tollen Menschen, die ich dort kennen gelernt habe. Wohler wäre es mir aber, wenn mein Verein einfach so ehrlich wäre, und solche genannten Feigenblatt-Aktionen, die spätestens jetzt einfach nur noch peinlich sind, in Zukunft unterlassen wird.

Schließlich gibt es genügend Menschen, die sich ehrlich für eine Sache engagieren und in Kauf nehmen, dafür auf Annehmlichkeiten zu verzichten. Dafür muss man aber aus der Komfortzone raus. Man kann sich für Menschenrechte einsetzen und verzichtet dann halt auf den vermeintlich idealen Testspielgegner. Man kann Organisationen wie die Caritas unterstützen, dann verzichtet man aber auf das Geld mancher Sponsoren. Man kann zu Fridays for Future Demos gehen, nimmt aber innerdeutsch den Bus, der ja eh zum Spielort fährt und kompensiert die Flugreisen, die sich nicht vermeiden lassen. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die auf vieles verzichten. Sich aber dann, wenn es passt, sich mit diesen zu solidarisieren ist für mich einfach ein No Go und auch eine Art von „Sportwashing“. Es gibt sicherlich auch so genügend Themenfelder, für die sich Mainz 05 auch in Zukunft einsetzen kann, bei denen man nicht in die Bredouille gerät, wenn man sie vernünftig beackert. Damit das nicht passiert, gibt es im Verein eine CSR-Abteilung und auch eine Fanabteilung, die hoffentlich beide intern nicht unter „Gedöns“ laufen. In beiden Abteilungen gibt es kompetente Menschen, die sicherlich auf Wunsch mit Rat den verantwortlichen Personen zur Seite stehen, damit der Verein nicht weiter Eigentore fabriziert.

Und vielleicht wird in ein paar Jahren die Erkenntnis einkehren, dass so ein Leitbild gar keine so schlechte Idee ist – weil es von der Mehrheit der Mitglieder entschieden eingefordert und nicht nur abgenickt wird und weil es vielleicht doch für Mainz 05 und seine Menschen im Verein steht. Dann kann es auch gerne wieder ausgepackt und von allen gelebt werden.

Anmerkung: In einer vorhergehenden Version wurde das Wort „Mitglied“ irrtümlicherweise gegendert. Danke für den Hinweis auf Facebook. 

Same same but different

Mainz 05 wird zumTestspiel gegen Newcastle United antreten.

Eigentlich wurde zum Testspielgegner von Mainz 05 und dessen Eigentümer, dem Staatsfonds von Saudi-Arabien, bereits alles gesagt. Manche inklusive Trainer Bo Svensson finden es gut, sich mit dem Verein aus der Premier League sportlich zu messen. Viele Facebook-Kommentierende, die Supporters Mainz sowie die Kommentare einiger Journalist*innen (und hier) stellen die Auswahl des Gegners in Frage. Im Leitbild von Mainz 05 heißt es: „Wir stehen für Offenheit, Respekt und Mitmenschlichkeit…Wir heißen alle Menschen, die diese Werte teilen, willkommen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, körperlicher und geistiger Verfassung, Religion, sozialer Stellung oder sexueller Identität“. Viele dieser Werte werden in vielen Teilen der Welt nicht gelebt (auch teilweise nicht in Deutschland). Wir bekommen es in anderen Weltregionen allerdings meist nicht mit, da in den Medien immer dieselben zwanzig, dreißig Länder präsent sind, die Einfluss auf uns und unser Land haben. Saudi-Arabien gehört aufgrund seiner Bodenschätze und aufgrund seiner Affinität zum Fußball allerdings dazu.

Aber dann bin ich auf dieses Zitat gestoßen: „Die arabischen Staaten sind doch alle gleich, was diese Werte angeht.“ Es stammt aus einer Antwort auf einen Facebook-Post von Mainz 05, in dem der Verein den Testspielgegner Newcastle United in der Sommerpause verkündet und zielt neben Saudi-Arabien auf Katar. Letzteres richtet im Spätherbst die Männer-Fußball-Weltmeisterschaft aus. Dabei handelt es sich um Länder, deren Regierung und teilweise auch deren Gesellschaft ein anderes Werteverständnis haben, als viele Menschen in Deutschland.

Natürlich kann man es sich einfach machen und alle Länder und deren Gesellschaften, die unsere Werte nicht teilen, moralisch boykottieren. In der Praxis klappt das ohnehin nicht, wenn wir tanken möchten und Öl aus Saudi-Arabien in unser Auto fließt oder demnächst Gas aus Katar unsere Wohnung mit Wärme versorgt. Man kann es sich sogar noch einfacher machen und sich sagen, so ist der Profi-Fußball halt heute. Das ist die klassische Schwarz-Weiß-Denke, die halt immer einfacher ist, als sich mit Themen gezielt auseinanderzusetzen. Grautöne sind mühsam, erfordern Zeit, sich diese zu erarbeiten und in der Schnelllebigkeit des Internets ist Zeit für viele ein zu kostbares Gut.

Aber vielleicht nimmt man sich doch ein paar Minuten Zeit und beschäftigt sich zumindest ein bisschen mehr mit diesen beiden Ländern, die aktuell die Gemüter erhitzen. Und vielleicht schätzt man am Ende die Meinung von Expert*innen mehr als das eigene Bauchgefühl oder die verzerrte Darstellung durch verschiedene Interessengruppen.

Den rein subjektiv besten Eindruck erhält man natürlich, wenn man mal selbst in den genannten Ländern vorbeischaut oder mit ihnen direkt in Berührung kommt. Im Falle von Saudi-Arabien ist mir das zweimal passiert. Einmal ging es darum, 1995 auf dem Landweg von Mainz nach Kapstadt gegebenenfalls über das Land zu reisen und einmal landete ich auf dem Rückflug aus Eritrea in Saudi-Arabien zwischen. Mein erster Versuch in der saudischen Botschaft in Amman (Jordanien) scheiterte, da damals Saudi-Arabien nur Geschäftsreisende und muslimische Pilgerreisende ins Land ließ. Mit Touristen und Fußballvereinen im Ausland wollte man damals noch nichts zu tun haben (anders als 2022). Zwei Jahre später beim Zwischenstopp mussten alle alkoholischen Getränke an Bord des Flugzeugs weggesperrt werden, ehe zur Landung angesetzt wurde. Das Flugzeug durfte ich damals nicht verlassen und konnte so nur einen kurzen Blick aus dem Flugzeugfenster auf den Flughafen Jeddah werfen. Nach dem Start in Richtung Frankfurt erhoben sich fast alle zugestiegenen Fluggästinnen und begaben sich auf die Toilette. Wenige Minuten später kamen sie unverschleiert wieder aus dem WC in Jeans heraus. Es war eine sehr bizarre Erfahrung.

2016 auf dem Weg nach Baku zum Europa League Spiel von Mainz 05 blieb ich einen Tag lang in Katar. Das Land hat sich damals bereits für Touristen geöffnet, das Einreisevisum gab es am Flughafen und Kleidungsvorschriften für Frauen gab es damals nicht. Zum selben Zeitpunkt wäre es immer noch unmöglich gewesen, nach Saudi-Arabien als Tourist*in einzureisen.

Gefühlt war man damals also in dem einen Land Willkommen, im anderen nicht. Aber um den subjektiven Eindruck, das oben angesprochene Bauchgefühl und um mich persönlich geht es schon gar nicht. Trotzdem blicke ich gerne auf bereits (fast) bereiste Länder zurück und verfolge aufmerksam ihre Entwicklung. Um beide Länder gut zu vergleichen eignet sich daher als erstes ein Blick auf die Seite des Auswärtigen Amts. Dieses teilt seine Einschätzung unter Anbetracht der in Deutschland vorhandenen Werte für jedes Land der Welt mit, damit man sich objektiv ein Bild aus der Sicht eines Reisenden machen kann. Da geht es bei Saudi-Arabien und Katar zunächst um den Punkt „Reiseinfos“:

Frauen

Saudi-Arabien: „Obwohl das Tragen einer Abbaya (schwarzer Ganzkörperumhang) für Frauen keine Pflicht mehr sein soll, sollten die in Saudi-Arabien vorherrschenden gesellschaftlichen Regeln beachtet werden. Unverheirateten Frauen wird angesichts möglicher rechtlicher Konsequenzen dringend von einer Entbindung in Saudi-Arabien abgeraten. Die unerwünschte Kontaktaufnahme ausländischer Männer zu nicht verwandten saudischen Frauen kann zu einer Anzeige wegen sexueller Belästigung führen. Körperlicher Kontakt muss für dieses Vergehen nicht vorliegen, es reicht zum Teil, dass sich eine Frau sexuell belästigt fühlt.“

Katar: „Frauen unterliegen keinen besonderen Beschränkungen oder Verboten.“

Christen

Saudi-Arabien: „Vermeiden Sie die Verteilung christlich-religiöser Symbole.“
Katar: Keine Hinweise

LGBTIQ

Saudi-Arabien: „Homosexuelle Handlungen sind in Saudi-Arabien strafverfolgt und auch gesellschaftlich nicht akzeptiert. Prostitution, homosexuelle Handlungen und außerehelicher Geschlechtsverkehr werden in Saudi-Arabien nach Ermessen des Richters mit Freiheitsentzug und/oder Stockschlägen bestraft, ggf. kann auch die Todesstrafe verhängt werden.“

Katar: „Das Strafrecht in Katar ist geprägt durch islamische Moralvorstellungen. Es sollte Reisenden bewusst sein, dass homosexuelle Handlungen und nichtehelicher Geschlechtsverkehr verboten sind und strafrechtlich geahndet werden. Es sind bisher keine Fälle von Verhaftungen von LGBTIQ-Personen bekanntgeworden, eine „aktive“ Verfolgung findet nicht statt.“

Rechtliche Besonderheiten

Saudi-Arabien: „Das kaum kodifizierte saudi-arabische Strafrecht beruht auf der islamischen Scharia hiesiger Auslegung mit den bekannten, ggf. bis hin zu Prügel- und sonstigen Körperstrafen und Amputationen reichenden Strafsanktionen.“

Katar: „Die Gebräuche und Gesetze von Katar sind stark durch den Islam und dessen Glaubensinhalte und Wertvorstellungen geprägt.“

Pressefreiheit

Geht es um weitere Werte ist, man auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angewiesen. Möchte man die Situation von Medienschaffenden und die Pressefreiheit betrachten, sind „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) ein guter Anlaufpunkt. Die weltweite Rangliste 2022 wird von Norwegen (Kategorie „Gut“) angeführt und auf dem letzten, dem 180. Platz liegt Nord-Korea. Saudi Arabien liegt auf Platz 166 und hat vier Plätze im Vergleich zu 2021 gut gemacht. Dennoch fällt es gemäß RSF in die Kategorie „Sehr ernst“. Katar liegt auf Platz 119 und hat im Vergleich zu 2021 9 Plätze gut gemacht. Das Land fällt laut RSF in die Kategorie „Schwierig“. Deutschland liegt auf Platz 13 und fällt in die Kategorie „Zufriedenstellend“. Zwischen „Zufriedenstellend“ und „Schwierig“ liegt nur eine Kategorie „Erkennbare Probleme“.

Menschenrechte

Wenn es um Werte geht, darf das Thema „Menschenrechte“ natürlich nicht fehlen. Eine gute Anlaufstelle ist Amnesty International (AI), die auch über erreichte Verbesserungen in den Ländern berichtet:

„Vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 versprach Katar weitere Reformen seiner Arbeitsgesetze. Außerdem gab der Weltfußballverband FIFA seine Pläne auf, die Anzahl der Teams bei der WM 2022 in Katar auf 48 zu erhöhen. Die FIFA war zuvor wegen menschenrechtlicher Bedenken unter Druck geraten. Eine derartige Vergrößerung wäre nur möglich gewesen, wenn sich weitere Länder in der Region als Gastland zur Verfügung gestellt hätten. Doch Amnesty machte gemeinsam mit anderen NGOs, Gewerkschaften, Fan- und Spielergruppen auf das Menschenrechtsrisiko aufmerksam, das so eine Erweiterung mit sich gebracht hätte – nicht zuletzt für die Wanderarbeiter, die beim Aufbau der nötigen Infrastruktur eingesetzt werden.“

„Um der Zusage nachzukommen, Arbeitsmigrant_innen vor Ausbeutung zu schützen, hat Katar dafür gesorgt, dass diese nicht länger eine Erlaubnis ihrer Arbeitgeber_innen benötigen, um den Arbeitsplatz zu wechseln. Zudem kündigte Katar die Einführung eines neuen, nicht diskriminierenden Mindestlohns an. Vor dem Hintergrund der im Jahr 2022 in Katar stattfindenden Fußballweltmeisterschaften setzt sich Amnesty International seit Jahren für die Rechte von Arbeitsmigrant_innen ein. Die angekündigten Reformen sind zu begrüßen, müssen aber schnell und vollständig umgesetzt werden.“

AI selbst hält von einem Boykott der WM nichts, sondern möchte die WM dazu nutzen, weiter auf die Situation der Arbeitsmigrant*innen vor Ort hinzuweisen.

Generell berichtet AI über die Menschenrechtslage in den einzelnen Ländern, so auch zum Thema Hinrichtungen. AI zu Katar: „Im Februar 2021 setzte der Emir die Hinrichtung eines tunesischen Mannes aus, der wegen Mordes zum Tode verurteilt worden war. Es gab im Jahr 2021 keine Berichte über Hinrichtungen.“ AI zu Saudi-Arabien: „Saudi-Arabien ließ im März 2022 an einem einzigen Tag 81 Menschen hinrichten.“

Geht es um politische Freiheit und Demokratie, empfiehlt sich ein Blick auf den „Annual Freedom in the World“ Bericht von Freedomhouse. Im aktuellen Bericht führen Norwegen, Schweden und Finnland die Liste an (40 Punkte für politische Freiheitsrechte, 60 Punkte für bürgerliche Freiheitsrechte). Saudi-Arabien konnte 7 Punkte erzielen (1 Punkt für politische Freiheitsrechte, 6 Punkte für bürgerliche Freiheitsrechte). Katar erhielt 25 Punkte (7 bzw. 18 Punkte). Beide Länder gelten in dem Report als „not free“. Im Vergleich kommt Deutschland auf 94 Punkte (39/55 Punkte) und gilt als „free“. Zwischen „not free“ und „free“ gibt es nur eine Kategorie „partly free“.

Anhand dieser Fakten kann sicher jede*r von uns seine eigene Meinung zu den beiden Ländern bilden, insbesondere zur Behauptung, dass die arabischen Staaten alle gleich sind, was diese Werte angehen, wie in dem Facebook-Post in den Raum geworfen wurde. Mit Hilfe dieser Rankings und Informationen lässt sich damit recht einfach die grundlegende Situation in einem Land betrachten. Damit kann sich im Jahr 2022 niemand herausreden, von einer Situation in einem Land nichts gewusst zu haben.

Und möchte man sich an einem Leitbild orientieren, das die Mitglieder*innen-Versammlung, also das höchste Gremium eines Vereins legitimiert hat, könnten diese Anlaufstellen sicherlich zur Entscheidungsfindung entscheidend beitragen, wenn man dieses Leitbild leben möchte.

Nur für das Trikot, fairsteht sich!

Seit Jahren ist es in der Liga üblich, das Trikot der Folgesaison am letzten Spieltag der aktuellen Spielzeit zu präsentieren. Der Hintergrund ist, wie könnte es anders sein, kommerzieller Natur. Wir Fans sollen zum Konsum animiert werden. Dass es auch anders geht, zeigt ausgerechnet ein Verein aus der Premier League. Der FC Brentford wird die Trikots der abgelaufenen Saison auch in den kommenden 12 Monaten tragen. In Zeiten knapper Kassen in den meisten Fanfamilien ist dies ein durchaus guter Move, soll aber in diesem Blogpost nicht wirklich Thema sein. Schließlich können wir selbst entscheiden, ob wir uns in diese Konsumspirale begeben oder nicht.

Vielmehr soll es hier um Inhalte gehen und Dinge, die bei unserem Verein mal wieder nicht so richtig zusammenpassen wollen. Da kreiert der Verein gemeinsam mit dem Trikotsponsor eine löbliche Friedensbotschaft und verbindet sie mit einer vergleichsweise großzügigen Spende in Höhe von 10 Euro, die vom Verkaufspreis in Höhe von fast 80 Euro an die „Better World Stiftung“ des Trikotsponsors geht. Gleichzeitig wird von limitierter Edition gesprochen, damit das oben angesprochene Konsumieren stimuliert wird. „Wer sich dieses ganz besondere Trikot sichern möchte, muss schnell sein“, ist in den Vereins News zu lesen. Warum die Auflage limitiert ist, und warum es nicht möglich ist, sich das Trikot nicht in aller Ruhe bis zum Verkaufsstart des „regulären“ Trikots Mitte Juli zu sichern, wird in den News nicht erklärt. Die Fans zu solchen Impulskäufen zu drängeln hat schon etwas von Kaffeefahrten-Charakter. Damit wird die Botschaft, Menschen zu helfen, ein wenig in den Hintergrund gedrängt.

Der Mainz 05 Kapitän Mousa Niakhaté trägt das Trikot der neuen Saison mit dem "You never walk alone" Schriftzug in den Farben der Ukraine und dem Schriftzug der Kömmerling Better World Stiftung
Screenshot von der Mainz 05-Webseite

Und genau darum geht es eigentlich in diesem Text. Denn leider wird im Rahmen der Aktion, die ja für eine bessere Welt einstehen möchte, nur die eine Seite der Medaille betrachtet: Die Friedensbotschaft auf dem Trikot symbolisiert die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die völlig unverschuldet in einen Angriffskrieg hineingezogen wurden. Die 10 Euro pro Trikot sollen die Not der Menschen vor Ort lindern. Soweit so gut. Aber eine solche Aktion sollte meiner Meinung nach ganzheitlich angegangen werden. Es sollten also auch die Menschen einbezogen werden, die diese Trikots hergestellt haben. Und dazu gibt es leider überhaupt keine Information. Leider ist es als Verein bis heute extrem schwierig, fair gehandelte Trikots zu erwerben, insbesondere, wenn man an einen Ausrüstervertrag gebunden ist. Hat der Ausrüster mit Nachhaltigkeit, konkret mit der fairen Produktion seiner Textilien, nichts am Hut, bleibt einem Verein leider nur der Weg, alles selbst in die Hand zu nehmen.

Diesen Schritt ist der FC St. Pauli gegangen. Und dieser Schritt benötigt Zeit – im Falle des FC St. Pauli sage und schreibe fünf Jahre. Bernd von Geldern, Geschäftsleiter Vertrieb auf der Vereinwebseite im Jahr 2021: „Auf der Mitgliederversammlung 2016 haben wir den Auftrag bekommen, unser Merchandising fair und nachhaltig zu produzieren. Diesem Anspruch möchten wir in möglichst vielen Bereichen gerecht werden. Mit unserer eigenen Marke ‚DIIY‘ möchten wir nun zeigen, dass sich Qualität, Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen auch für Performance-Kleidung überhaupt nicht ausschließen müssen. Darum haben wir die Messlatte mit unseren selbst formulierten Ansprüchen an die neue Teamsport-Kollektion auch bewusst hochgelegt. Wir sind überzeugt davon, dass auch unsere Fans diesen Anspruch teilen und möchten sie auf unseren Weg mitnehmen. Deswegen starten wir schon jetzt in den Vorverkauf für das Heimtrikot der Saison 2021/22 – denn nur gemeinsam mit unseren Fans schaffen wir unser anspruchsvolles Ziel, die nachhaltigste Teamsport-Kollektion der Welt zu produzieren.“

Vor mehr als zwei Jahren habe ich bereits zum damaligen neuen Ausrüster etwas geschrieben („Fair Fashion for Future„) und meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Wechsel auch das Thema faire Trikotproduktion angegangen wird. Getan hat sich allerdings wohl nichts:

„Großes Problem der Mainzer ist die aktuell noch fehlende Transparenz. Es können beispielsweise weder Hauptproduktionsstandorte noch Angaben zur Auswahl und Überprüfung der Lieferanten gefunden werden“, lautet das ernüchternde Ergebnis der Studie „Die Vereine im Ranking – so fair sind ihre Shops“ von cum ratione im Jahr 2021. Damals arbeitete der Verein laut dieser Studie gerade intensiv daran, diese Transparenz herzustellen. Allerdings habe zumindest ich hierzu noch nichts gelesen. Aber selbst wenn diese Transparenz existiert, ist natürlich noch nicht sichergestellt, dass die Menschen, die die Trikots hergestellt haben, auch davon leben können. Auch hier gilt der FC St. Pauli als Vorbild. Er ist 2021 als erster und bisher einziger Verein weltweit Mitglied bei „Fair Wear“ geworden. Diese Organisation stellt sicher, dass die Arbeitenden freiwillig ihren Dienst verrichten, sprich, Sklaverei wird ausgeschlossen. Die Arbeitenden können Gewerkschaften gründen und Kollektivverträge vereinbaren. Diskriminierung jeder Art ist ausgeschlossen, Kinderarbeit verboten und existenzsichernde Löhne (nicht zu verwechseln mit Mindestlöhnen) werden gezahlt. Es wird sich an eine Höchstarbeitszeit gehalten und die Arbeitsumgebung entspricht Mindest-Arbeitsschutzrichtlinien. Ferner existiert ein Arbeitsvertrag mit Rechten und Pflichten. Diese Kriterien gelten für uns meist als selbstverständlich. Dass dies in anderen Ländern alles andere als ein Standard ist, wird sicherlich deutlich, wenn man sich die Sportartikelhersteller anschaut, die Mitglied bei Fair Wear sind, wie z.B. Deuter, Haglöfs, Hess Natur, Jack Wolfskin, Odlo, Salewa, Schöffel, Vaude, engelbert strauss und Mammut. Alle bekannten Ausrüster der Liga sind hier leider noch kein Mitglied.

Um in Zukunft keine halben Sachen zu machen, sollte sich Mainz 05 langfristig anders aufstellen, wenn der Ansatz ernst gemeint ist, Menschen zu helfen und nicht darauf hoffen, dass ein Ausrüster endlich sicherstellt, dass die Textilien unter fairen Bedingungen hergestellt werden. Dann würde auch die Kehrseite der Medaille für eine „Better World“ stehen.    

Quellen:

Premier League – Nachhaltigkeit: Brentford trägt Trikots auch nächste Saison – t-online.de
1. FSV Mainz 05 – News Detailansicht: Neues Heimtrikot
DIIY – Alles muss man selber machen! – FC St. Pauli
FSV Mainz 05 – cum-ratione.org
Member Brands – Fair Wear Foundation