Egal, was andere erzählen

Wann hattet Ihr gestern Euren emotionalen Tiefpunkt? Nach 5 Minuten, als das Glück der Diva vom Main mal wieder hold war? Nach dem zweiten oder dritten Treffer oder dem Führungstor in Hamburg? Bei mir war es irgendwo da in der genannten Phase. Ja, Abstiegskampf ist unangenehm, macht wenig Spaß und dann ist da jetzt auch noch die Fastenzeit, in der ich persönlich versuche, wenn ich nicht auf Reisen bin, auf Gerstensaft zu verzichten. Das Leben ist schön – nur aktuell nicht so wirklich, wenn man sich ausschließlich auf die gegenwärtige Lage unseres Vereins fokussiert.

05 bleibt mein Verein
05 bleibt mein Verein

Aber nach jedem Tiefpunkt geht es bekanntlich wieder aufwärts. Bei mir persönlich zunächst, als ich mich köstlich über das hochwertig hergestellte Plakat auf der Gegenseite amüsieren durfte. „05er sind die größten Flaschen!“ – you made my day, liebe Diva vom Main. Die Meenzer Metzger haben nüchtern auf Twitter festgestellt „1-Liter-Flaschen sind größer“. Und wenn die schwarz-weiße Kreativität nicht weiter entwickelt ist, dann ist „bunter Scheiß“ halt doch vielleicht der geilere „Scheiß“? Wenn man sich auf’s rein Sportliche beschränkt (hüstel), dann wurde der Tiefpunkt spätestens durchschritten, als weitere zwei Tore in Hamburg fielen und im Waldstadion nix mehr passierte. Dass dann die Truppe vom Don noch durch ein Eigentor gewinnt – nein es ist nicht alles schlecht gelaufen gestern. Und dass man sich für die Hertha und S04 freut – so what, das ist Abstiegskampf…und der ist unangenehm, macht wenig Spaß und Jever Fun bleibt Jever Fun.

„Egal was andere erzählen, 05 nur Du bist mein Verein“ wurde im Block sehr gut passend auf das Flaschenplakat intoniert. Und so lautete auch mein Post nachkicks in den sozialen Netzwerken. Denn da ging es mir tatsächlich irgendwie schon wieder besser. Die letzten Gegentore waren bereits mehr als eine Stunde her und wir haben, Stand Sonntag Morgen, nur in der Tordifferenz zwei Tore gegenüber Hamburg (und Wolfsburg) verloren. Dass die Saison hart wird, war doch irgendwie klar. Es gab kein Paderborn, Fürth, Darmstadt oder Tasmania Berlin in der Liga. Wer soll denn da in einer solchen Liga bitteschön eher in den Abstiegskampf gezogen werden? Freiburg – bewirbt sich gerade. Augsburg – geht erst jetzt die Luft aus. Dass es Köln (Europapokal), Wolfsburg (Deutscher Meister 2009) und der HSV (unabsteigbar) wurden, zeigt doch schon, wie die Liga aktuell besetzt ist. 

Da ich vom rein sportlichen Geschehen keine Ahnung habe, wundere ich mich immer wieder, wie in den sozialen Netzwerken so viele Leute, den handelnden Personen Unfähigkeit vorwerfen können. Bin ich wirklich der einzige, der keine Ahnung hat (außer Rouven und Sandro natürlich)? Den Trainer rauszuschmeißen hat in Hamburg ja nicht wirklich was gebracht. Und in Köln auch noch nicht komplett. Und auch in Wolfsburg hat die Demission von Martin bei denen noch nichts bewirkt. Und was haben Sandro und Kloppo gemein? Richtig, sind beide schon mal als Trainer mit 05 abgestiegen. Dass Sandro mit einer neu formierten Jugendmannschaft in einer so stark besetzen Profi-Liga mit Vereinen wie Jahn Regensburg und Holstein Kiel abgestiegen ist? Hat wohl noch keiner mitbekommen. Und dass einer dieser beiden Vereine jetzt womöglich eine Relegation zum Aufstieg in die Bundesliga (!) spielt? Zeigt hoffentlich allen virtuellen Rausschmeißern, in welcher Liga Sandros Team da letztes Jahr fast nicht abgestiegen wäre. 

Was wohl seit dem Pokalspiel in Frankfurt gewirkt hat, und das finde ich wirklich gut, ist die Reaktion von Rouven. Bereits beim Schalke Heimspiel hat er sich gezeigt und entsprechende Zeichen Richtung Tribüne gegeben. Und auch gestern war seine Reaktion in Ordnung. Er musste sicher auch erstmal lernen, dass Sportdirektor mehr ist, als das Wirken im Hintergrund. Und sein Zitat in Richtung Per Mertesacker gilt auch für alle Protagonsten bei 05. Es sind hier immer noch Menschen am Werk. Und die haben Schwächen und  machenFehler. Auch das sollten wir alle bitte nicht vergessen.

Auch in Ordnung war  gestern die Tatsache, dass der Großteil der Leute im Block blieb, trotz angekündigter Blocksperre bis 18 Uhr durch die Ordnungshüter. Das ist die richtige Richtung: Den Verein unterstüzten, auch wenn man dazu eigentlich keine Lust mehr hat, einem das Zweikampfverhalten auf den Sack geht, die Spieler zu wenig laufen, der Torhüter einen Ball durchlässt. Oder will man nach dem Ende der Saison einfach nur Recht haben und sagen, „das habe ich doch schon am zweiten Spieltag gesagt“, „war eh klar“, „sag‘ ich doch“ etc. Wenn einem die Genugtuung tatsächlich wichtiger ist als der Verein, dann „habe ich fertig“ – ein Zitat, das auch noch nach 20 Jahren gilt. 

Aber wer jetzt immer noch weiterliest, bei dem ist wohl die 05-Liebe noch vorhanden. In diesem Sinne finde ich für uns alle den Termin am Mittwoch eine sehr gute Sache. Ich möchte mich bei denen bedanken, die dieses Treffen möglich gemacht haben – die immer noch die Energie haben, den Bock, zumindest außerhalb des Platzes, umzustoßen. Hoffentlich werden da die Themen angesprochen, die beide Seiten bewegen, und Lösungsansätze gefunden, damit wir danach emotional gestärkt in die entscheidenden Wochen gehen und wir alle sagen können „Egal, was andere erzählen, 05 nur Du bist mein Verein, mein Verein!“

Früher war alles…anders

„Vielleicht ist es nicht die schlechteste Idee, nach Fastnacht mal auf eine Insel zu fahren, den Kopf frei zu bekommen und aus der Ferne den Status Quo rund um unseren geliebten Fußballsportverein zu analysieren. Allerdings wird dies kein weiterer „Meilenstein“, der sich mit der sportlichen Situation im Fußball in Liga 1 auseinander setzt. Schließlich weiß ich ganz genau, wovon ich keine Ahnung habe. Und es gibt da Menschen im Verein, die das sicher besser beurteilen können.

Niki Zimling nach dem Spiel in Regensburg
Niki Zimling nach dem Spiel in Regensburg

Was ich hoffe, beurteilen zu können, ist die Situation neben dem Platz, in der wir uns aktuell befinden: Wir, das bedeutet für mich Vereinsverantwortliche, Spieler, Fans. Interessanterweise wird von Sandro oft die gute alte Zeit beschworen, in der bei Mainz 05 alle zusammenhielten. Doch damals gab es noch kein Internet aber bereits Leute, die alles besser wussten als Trainer und Manager. Diese Leute gibt’s wohl, seitdem Fußball als so attraktiv erscheint, dass dem Spiel passiv beigewohnt wird. Matthias Sammer hat natürlich Recht, wenn er behauptet, Fußball gab es vor den Fans. Allerdings sollte er überlegen, warum er soviel Kohle in seiner Karriere gescheffelt hat. Fußball um des Fußball willens funktioniert…in der Kreisliga. Ohne Zuschauer gibt’s letztlich kein Geld zu verdienen. Er sollte vielleicht mal bei den OlympionikInnen nachfragen, wie die sich zwischen den Spielen vier Jahre lang finanziell durchschlagen und nun wieder bis Beijing 2022 medial in der Versenkung verschwinden.
Aber zurück zur angeblich guten alten Zeit bei unserem Verein. Für Motzer und Meckerer war früher nur Platz am Stammtisch und für diese Leute ist das WWW wahrlich ein Geschenk des Himmels, wurde doch schließlich die ganz persönliche Meinung durch einen Mausklick nun für die gesamte Netzgemeinde weltweit lesbar – was vorher höchstens noch der Nachbartisch mitbekommen hat.
Auch heute glaube ich, dass wir wie anno dazumal alle ein Ziel haben: Den maximalen Erfolg unseres Vereins. Ich glaube nicht, dass es eine Gruppe im Umfeld des Vereins gibt, die bewusst quertreiben möchte. Das ist für mich schon ein starkes Pfund im Abstiegskampf. Hier trifft niemand kühne Entscheidungen im Alleingang. Auch muss einem Kind kein Spielzeug weggenommen werden. Aber es gibt seit den Tagen als die alten Helden Jürgen und Don das Schiff Mainz 05 verlassen haben einfach ein Vakuum, das bisher nicht gefüllt wurde. Es handelt sich dabei genau um das, was Sandro mit „früher“ bezeichnet. Früher wurde sich zusammengesetzt, disputiert und eine Lösung gefunden. Das funktionierte oft am Zaun von Lübeck, Kiel und Medias, gefühlt hundert Mal in Fürth und vielleicht auch in Velbert aber sicher hinter den Kulissen, weil sich die Protagonisten auch lange genug kannten, um tiefer liegende Ursachen für Missstimmungen anzugehen. Dieses Vakuum müsste halt jemand füllen, der auf der Trainerbank während der Spiele Platz nimmt und direkt „eingreifen“ kann, also Kuhni, Sandro oder Rouven. Das funktioniert aber natürlich nicht von jetzt auf gleich und wenn man sich dazu nicht in der Lage fühlt oder sieht, dann klappt das halt nicht so wie früher. Wäre zwar kacke, ist dann aber halt so. Aber das ist meiner Meinung nach die sooft beschworene 05-Identität.
Seit geraumer Zeit habe ich aber ohnehin schon ein ganz klein wenig das Gefühl, dass man als aktiver 05-Fan oft nur lästiges Beiwerk beim Geschäft Profifußball ist. Es kommt jetzt allerdings keine DFB-Schelte, denn die großen Probleme sind ohnehin bekannt.Es sind die kleinen Mainz-bezogenen Dinge, die mich da nachdenklich stimmen. Dass z.B. die Mannschaft in Hoffenheim nicht zum Zaun kam, ist für mich ein Déjà vu, fuhr ich doch in Liga 3 häufig auch mal auswärts – zuletzt im April 2017 nach Regensburg, dienstags abends zur U23. Insgesamt hatten sich rund 10 05er aufgemacht, die Jungs im Abstiegskampf zu unterstützen. Wir waren als Gästefans eindeutig erkennbar und die Jungs machten sich auch vor uns warm. Nach dem verlorenen Spiel kam genau eine Person zum Block: Niki Zimling – der Rest der jungen 05er machte sich frustriert mitsamt dem Trainer-Team ab in die Kabine. Nein, man muss nicht zu den Gästefans gehen, da hat Philipp Köster von „11 Freunde“ Recht (allerdings hat er von unserer Situation leider wenig Ahnung).
Aber es ist halt schon ein Statement, das man abgibt: Uns sind die mitgereisten Fans egal. Oder wird man als Fan erst wahrgenommen, wenn man in der großen Masse auftritt? Denn hier zählt das Argument des Schmähgesangs nicht. Natürlich kann man mit 10 Leuten keinen Mega-Support leisten, aber angeblich bekommen das die Spieler ja eh während des Spiels nicht mit. Also frage ich mich schon, warum die höchste Ausbildungsmannschaft der 05er einfach nach dem Spiel abhaut. Den Jungs wird doch neben dem Fußball so viel vermittelt. Das wäre für mich ein Ansatzpunkt für die 05-Identität: Geht nicht nur zusammen in der Halbzeitpause vom Platz, sondern nachkicks im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fans zu – egal ob es 5, 50, 500 oder 5.000 sind. Wollen die euch nur beleidigen, dreht einfach ab – das habe ich im Stadion am Europakreisel in sportlich besseren Zeiten öfters beim Gästeteam beobachtet – denn Beleidigungen braucht wirklich niemand und sie motivieren Spieler bestimmt nicht. Aber partout keinen Schritt in Richtung eigener Fans zu machen, ist und bleibt eine nicht hilfreiche Aktion, wenn es eh an allen Ecken und Enden brennt. Das wirkt dann wie ein Brandbeschleuniger.
Zurück zu Niki Zimling. Der alte Leader wusste was sich in Regensburg gehört, dabei war er es, der schon vor weit mehr als 10 Fans auswärts gespielt hat – anders als seine jungen Mitspieler. Und da sind wir beim nächsten Punkt, den Spielern selbst. Früher bei Sandro war die Verweildauer der Spieler bei Mainz 05 wesentlich länger als heute. Junge, talentierte Spieler zu holen, aufzubauen und teuer zu verkaufen, ist für unseren Verein eine gute Idee für das Haifischbecken Bundesliga mit dem Kollateralschaden, dass diese Jungs keine Bindung zum Verein und keinen Bezug zur Stadt aufbauen. Auch hier ist der Verein gefordert, die Jungs in die lokale Kultur einzuführen. Selbst die großen Bayern zwängen Weltstars zum Oktoberfest in die Lederhose. Da sollte es doch möglich sein, den Spielern etwas über die politisch, literarische Fastnacht beizubringen, die eine gewisse Selbstironie mit einschließt. Dann hätten die verantwortlichen 05er in Hoffenheim vielleicht verstanden, dass der Block, der halt einen an der Waffel hat, das nicht bierernst gemeint hat. Oder definiert man im Verein Fastnacht nur mit einem verkleideten Bajazz?
Und wir Fans? Was haben wir verbockt? In Hoffenheim sicherlich nach dem zweiten Tor von Emil nicht nochmal richtig Gas zu geben. Aber Fans sind halt auch nur Menschen, die nicht auf Knopfdruck supporten. Und jeder hat das Recht, zu supporten oder es sein zu lassen oder auch so zu supporten, wie es einem gefällt, so lange es keine Beschimpfungen sind. Ich habe natürlich leicht reden, hocke ich ja gerade fernab auf einer Insel, aber dennoch hoffe ich für Samstag auf eine große Unterstützung der Mannschaft in Hamburg und hoffe ferner, dass diejenigen, die sich seit geraumer Zeit missverstanden oder nicht ernst genommen fühlen, differenzieren zwischen der aktuellen sportlichen Lage unseres Vereins und der von ihnen so wahrgenommenen Situation, die es mittelfristig mit den Vereinsvertretern zu lösen gilt.
Denn wir alle sind gerade in der glücklichen Lage, einen neuen, unverbrauchten Präsidenten, einen allseits anerkannten, gewählten Fanvertreter im Aufsichtsrat, eine handlungsfähige Fanabteilung, einen kompletten Vorstand und rührige Supporters zu haben, die sich hoffentlich alle auf Augenhöhe begegnen und die Gräben zuschütten, die mit der Zeit entstanden sind.

Sierra Leone 2017 letzter Teil

Die Gefahr, dass Fremde davon Wind bekommen, dass hier zwei Touris alleine ausharren und man diese vergewaltigen oder direkt abschlachten könnte, bevor man sich ihrer Barreserven bemächtigte, schätzten wir als nicht sehr hoch ein – auszuschließen war es aber auch nicht wirklich. Ich hatte irgendwie eher das ungute Gefühl, dass die Leute vielleicht bis in die Puppen feiern und uns schlicht vergessen würden. Ich war mir nicht im Klaren darüber, warum ich so misstrauisch war – aber vielleicht wird man das mit der Zeit, wenn man Jahr ein Jahr aus stetig schlimmere Nachrichten zur Kenntnis nimmt und mit der Zeit einfach nur noch den „Worst Case“ als plausibelste Möglichkeit annimmt.

Nachdem wir uns im Visitors Centers gegenseitig genug verrückt gemacht hatten, entschlossen wir uns trotzdem so zu tun, als wäre alles normal und wir legten uns schlafen, während wir in der tollsten Natur, die ätzende Zivilisation in Form von nervender Musik mitbekamen. Vor Jahren auf meiner Weltreise lernte ich auf der Zugfahrt von Malaysia nach Thailand einen sehr weit gereisten Niederländer kennen. Wir quatschten damals einen Großteil der Fahrt natürlich übers Reisen. Peter meinte damals, man bräuchte einfach immer einen Plan B. So überlegte ich mir in den folgenden Stunden meinen Plan B, falls wir die Nacht überleben sollten und uns am Morgen niemand Kaffee servieren würde. Essen hatten wir praktisch keines mehr. Es gab auch nichts wie Früchte oder Gemüse, was man hätte verzehren können. Wasser gab es ungefiltert aus dem Fluss, das für die Klos und die Dusche genutzt wurde. Vielleicht gab es an der Feuerstelle ein Feuerzeug, so dass wir Wasser hätten abkochen können. Strom gab es dank der Solarzellen, sodass das iPhone mit dem Navi drauf, das über Satellit funktioniert, einwandfrei zu gebrauchen gewesen wäre. Wir hätten es somit höchstwahrscheinlich zur anderen Seite der Insel durch den Dschungel geschafft. Dort war zwar kein Dorf, aber der Fluss war so tief nicht, so dass wir womöglich hätten durch stiefeln können. Zwei Dinge, die ich in der Nacht noch nicht wusste, hätten meinen Plan B im Nachhinein als ziemlich dämlich entlarvt: Es gab Krokodile im Fluss und es gab einen Fußweg vom Visitors Center nicht nur zur ca. 200 m entfernten Anlegestelle der Boote sondern auch einen Fußweg nach Norden, der zu einer Bucht führt, die sich direkt gegenüber der Anlegestelle des anderen Dorfes befand. So hätten wir problemlos auf uns aufmerksam machen können – weil diese auch gleichzeitig als „Waschmaschine“ und „Bad“ des Dorfes fungierte und während des Tages sich eigentlich immer jemand dort aufhielt, um im Fluss Wäsche zu waschen oder sich zu reinigen.

Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai
Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai

Irgendwann fiel ich in einen Halbschlaf und bemerkte später, dass die Party wohl zu Ende war, da keine Musik mehr zu meinen Ohren durchdrang. Oropax hatte ich lieber nicht in die Ohren gesteckt – man möchte ja seine „Angreifer“ dann doch noch möglichst früh bemerken – eine dämliche Vorstellung zwar, aber in dieser Situation war mit Rationalität in etwa so viel anzufangen, wie bei einem 05-Spiel im Gästeblock. Als ich plötzlich Stimmen hörte, war mir relativ sicher, dass es die Dorfbewohner waren und nicht irgendwelche Räuber und Vergewaltiger. In dieser Nacht näherte sich tatsächlich niemand mehr unserem Zelt und ich schlief irgendwann erschöpft ein.

Am nächsten Tag stand pünktlich um sieben nicht nur der Kaffee auf dem Tisch, sondern auch unser Guide zum Waldspaziergang nebem dem Tisch. Er stank bestialisch nach Alkohol und vielleicht war das der Grund, warum wir an diesem Morgen weniger Affen entdeckten als am Morgen zuvor. Trotzdem genossen wir unser Leben, freuten uns, dass dieses genauso wie diese Reise weiterging und konnten es dann doch recht gut verkraften, nicht so viele Primaten vor die Linse zu bekommen. Am späten Vormittag fragten wir nach, ob und wann, wie irgendwie tags zuvor vereinbart, das Dorf zu besuchen sei. Plötzlich war ein Boot und der Bootsjunge da und auch der Dorfspaziergang funktionierte schließlich einwandfrei. Die Leute bauten allerlei Obst und Gemüse an und fischten im Fluss, um ihren Hunger zu stillen. Wie die fünf anderen Tiwai umgebenden Dörfer profitierte auch Kambama von unserem Aufenthalt. Tiwai Island ist eine Kooperative, zu der sich die Dörfer rund um die Insel zusammenschlossen, um Ökotourismus aufzubauen. Von den Einnahmen wurden Infrastrukturprojekte gefördert und die Menschen lernten, dass es sich finanziell am Ende mehr lohnt, die Affen zu schützen, statt zu fangen, um sie zu essen oder zu verkaufen.

Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang
Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang

Nachdem es spätnachmittags nochmals auf Bootsfahrt in den Sonnenuntergang ging, kamen tatsächlich, wie drei Tage vorher angekündigt, unsere beiden Helfer vom ersten Tag aus Mapuma, dem anderen Dorf. Und mit dem letzten Licht des Tages bekamen wir dann sogar noch Zuwachs an Touristen. Eine Italienerin, die 8 Jahre in Sierra Leone Entwicklungshilfe leistete, schaute mir ihrem Sierra-leonischen Freund vorbei. Sie war erst mal überrascht, überhaupt Weiße zu treffen. Sie fragte uns, was wir in Sierra Leone machten. Wir entgegneten ihr „Urlaub“. Sie meinte, ja klar, aber was uns letztlich tatsächlich hierher trieb, sprich für welche Firma oder welches Projekt wir arbeiten würden. Als wir entgegneten, wir seien wirklich stinknormale Touris, konnte sie es kaum glauben. Die dritte Nacht auf Tiwai Island schlief ich beruhigt ein, schließlich waren wir nicht alleine. Nachts wachte ich plötzlich doch panisch auf, da mein Kopf juckte. Ich dachte an Flöhe oder an die beiden Agamen, Eidechsen-ähnliche Reptilien, die im Zelt mit uns lebten, war aber zu müde, um den wahren Grund herauszufinden. Am nächsten Morgen merkte ich, dass Ameisen ihre Straße über meinen Kopf umgeleitet hatten – daher also dieses Kratzen und Jucken auf der Kopfhaut.

Einfach mal so nach Sierra Leone zu fahren – das macht wohl wirklich fast niemand. Und so ist es wenig verwunderlich, dass wir in Tiwai dann so eine emotionale Achterbahnfahrt mitgemacht haben. Sicherlich hat den Dorfbewohnern niemand wirklich mal erklärt, was Touristen neben Essen und Trinken wirklich wollen, sprich, eigentlich immer Bescheid wissen, wann es was gibt, also, dass es dann und dann Mittag- oder Abendessen gibt, um soundsoviel Uhr die Dorfbesichtigung stattfindet etc. Und dass Touris nicht alleine gelassen werden möchten – auch nicht 6 Stunden für die Hälfte der Nacht, weil Dorffest ist. Das ganze kann man den Leuten gar nicht vorwerfen, und vielleicht stellten wir uns auch ein wenig memmenhaft an, aber wir waren trotz der herrlichen Natur wirklich froh, am nächsten Morgen zu Fuß wieder 5 km durch den Dschungel zur anderen Inselseite zu wandern und der Insel den Rücken zu kehren. Mit den Einbäumen ging es ruck zuck über den Fluss und wir hofften darauf, dass Saidhu schon am Ufer mit seinem Nissan stand. Es war erst viertel vor neun und wir hatten neun Uhr ausgemacht – von daher hielt sich unsere Enttäuschung in Grenzen als kein Saidhu vom Ufer her winkte und die Zivilisation in Form des Nissan direkt am Ufer parkte. Wir marschierten mit den Jungs ins paar Hundert Meter entfernte Dorf und hier fing schon wieder das Kopfkino an.

Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer
Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer

Die Leute von Tiwai Island wollten Saidhu eigentlich noch anrufen, uns im anderen Dorf abzuholen, da die Strecke wesentlich kürzer sei. Aber angeblich hatte ihn niemand erreicht. Wir hatten allerdings die Befürchtung, es hätte ihn doch jemand erreicht und nun würde er vergeblich in Kambama auf uns warten. In Mapuma, unserem Dorf, wurden wir inzwischen von einer großen Schar an Kindern neugierig begutachtet. Der Dorfälteste kam, stellte sich vor und wir erhielten zur Begrüßung zwei Kokosnüsse in die Hand gedrückt. Die Bewohner bemerkten die aufkommende Verzweiflung in unseren Gesichtern, wo Saidhu wohl blieb, und man fragte nach seiner Telefonnummer. Ich gab sie den freundlichen Helfern, meinte aber, man hätte hier doch eh keinen Empfang. Aber es gab genau an einer Stelle tatsächlich ein paar Streifen auf dem Handydisplay. Diese „Telefonzelle“ war tatsächlich mit Stöcken markiert, nur Saidhu nahm nicht ab – was mich wiederum wenig verwunderte, da er bestenfalls unterwegs war und keinen Empfang hatte. Um zwanzig nach neun probierten wir die Nummer der Autovermietung in Freetown, die angeblich 24 Stunden am Tag erreichbar war – ich hörte das Freizeichen, aber auch hier nahm niemand ab – es war schließlich Sonntag Morgen, kurz vor halb zehn in Sierra Leone.

Plan B! Sollten wir ja immer griffbereit haben. Und somit fragte ich, wie man denn ins 47 km gelegene Kenema käme, dem Beginn der Teerstraße. „Mit dem Motorradtaxi“ war die Antwort. An diese habe ich noch sehr schlechte Erinnerungen, da ich 1999 mit diesem einen Unfall in Benin hatte. Der Fahrer freute sich damals so dermaßen, einen Touri zu einem wohl dermaßen guten Preis die paar Kilometer zu fahren, dass er weder nach links noch noch rechts blickte, die Kreuzung einfach überquerte und uns ein von rechts kommendes Auto streifte, so dass wir fast drauf gegangen wären. Mein Wadenbeinbruch wurde erst rund drei Wochen später in Deutschland diagnostiziert – nachdem ich auf der Meenzer Fassenacht und dem dazugehörigen „Finther Zug der Lebensfreude“ ein Krachen im Bein vernahm. Der Arzt, den ich dann am Aschermittwoch konsultierte, meinte, der Knochen sei in der Zwischenzeit wieder zusammengewachsen und beim Fastnacht feiern nochmals gebrochen. Meine Begeisterung für Motorradtaxis hielt sich also an diesem Sonntag Morgen in Sierre Leone deutlich in Grenzen.

Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen
Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen

Während ich gerade in die Preisverhandlungen einsteigen wollte, hörte ich ein Motorengeräusch und ein paar Sekunden später bog der weiße Nissan mit Saidhu hinterm Steuer um die Ecke. Die pure Erleichterung fiel mir wohl wirklich aus dem Gesicht heraus. Das beste an der Situation war die Tatsache, dass wir uns für die Gastfreundschaft der Bewohner Mapumas revanchieren konnten, indem wir einen unserer Begleiter von der Insel bis kurz vor Freetown und eine Frau zum Markt nach Kenema mit ihren Gemüsekörben mitnehmen konnten. So hatten die Dorfbewohner tatsächlich noch etwas davon, dass Touris mit dröhnenden Riesenautos in ihr Dorf kommen. Für das Telefonieren wollte ich natürlich auch den Telefonisten entschädigen, dieser fragte nur verständnislos zurück, wieso das denn? Hm, weil ich in einer anderen Welt gelernt habe, dass man helfenden Leuten ihre Auslagen ersetzt, wenn man dazu finanziell in der Lage ist. Ich fragte geistesgegenwärtig, ob man vielleicht das Geld der Dorfgemeinschaft spenden könnte, was dann tatsächlich wohlwollend entgegen genommen wurde. Soviel Altruismus von Menschen, die selbst nicht viel haben und dann noch Touris aus der Klemme helfen möchten – ich war überwältigt.

Die Fahrt zurück auf die Freetown-Halbinsel verlief dann wieder vollkommen ereignislos, was in Sierra Leone auch einfach mal schön sein kann. Bemerkenswert fand ich allerdings die riesigen Plakate am Straßenrand, die auf mich wirkten, als würde das ganze Land gerade versuchen, sämtliche Missstände und Probleme anzugehen: Während bereits vor den Einreiseschaltern am Flughafen auf den Kampf gegen Korruption hingewiesen wurde, las ich im Abstand weniger Kilometer, dass man Ebola-Opfer nicht ausgrenzen sollte – während die Schilder, Ebola-Fälle umgehend per SMS zu melden, langsam verrotteten. Es wurde für HIV-Tests geworben und darauf hingewiesen, dass eine HIV-freie Geburt von Kindern möglich sei – eines der ganz großen Probleme Afrikas. Schließlich sind in manchen Ländern ein Viertel der Bevölkerung HIV positiv. Glücklicherweise gehen die Neuansteckungen zurück und solche Plakate lassen wenigstens ein Stück weit positiv in die Zukunft blicken. Auch der Gewalt gegen Frau wird plakativ ein großes „NO“ entgegen gestellt. Was mich ebenfalls beeindruckt hat, waren die bunten Plakate des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), die mir mit den „Substainable Development Goals“ bis 2030 ins Auge gesprungen sind: Neben Umweltaspekten, geht es hier um die Gleichstellung von Frau und Mann und eine Reduzierung von Ungleichheiten. Es wäre zu wünschen, wenn sich Teile dieser Ziele tatsächlich in den nächsten Jahren realisieren lassen würden – nicht nur in Sierra Leone, sondern auch bei uns zu Hause.

Angenehme Übernachtung in Tacugama
Angenehme Übernachtung in Tacugama

Statt zurück in die Hauptstadt zu düsen, ging es ins Schimpansen-Reservat Tacugama, um, wie anfangs berichtet, „Somebody“, unser Schimpansen-Kind zu besuchen. Tacugama wurde bereits 1995 gegründet, um die Schimpansen Sierra Leones vor der Ausrottung zu schützen. Das Gesetz in Sierra Leone verbietet es, Schimpansen zu fangen, um diese entweder als Haustier zu halten, diese als „Bushmeat“ zu essen oder zu verkaufen. Damit dieses Gesetz auch Wirkung entfaltet, erhalten die konfiszierten Schimpansen in Tacugama ein neues Zuhause. Mittelfristig sollen diese wieder auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden, was bisher allerdings noch nicht gelang. Durch Schulungen versucht man die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es einen Mehrwert bringt, Schimpansen zu schützen, damit Touris wie wir kommen und Geld im Land lassen – mehr Geld, als man mit dem Verkauf von Schimpansen machen kann. Nach der verheerenden Schlammlawine, die die Umgebung Tacugamas im August letzten Jahres heimsuchte und mehr als 400 Leute unter sich begrub, kümmerte sich Tacugama zunächst um die Waisenkinder und beginnt nun mit der Aufforstung des Gebiets. Schließlich handelte es sich nicht ausschließlich um eine Naturkatastrophe. Vielmehr war dieses Unglück durch die illegale Rodung von Wald auch menschengemacht.

Nach den Nächten von Tiwai im Zelt genossen wir es, in einer kleinen Rundhütte in den Bergen der Freetown-Halbinsel zu chillen und nur ab und zu die Geräusche der Schimpansen zu vernehmen. Nachts „schimpfte“ es dann plötzlich aus dem Geäst. Ein Galago, auch als Buschbaby bekannter, Feuchtnasenaffe fand es wohl wenig erbauend, dass wir in seinem Revier den Geräuschen der tropischen Nacht lauschten. Mit den Stirnlampen erkannten wir das nachtaktive Tier an seinen riesigen Ohren und großen runden Augen. Lustigerweise konnten wir in Tacugama vor den Toren der Hauptstadt Freetown nun endlich die Nachtruhe genießen, die wir in Tiwai teilweise vermisst hatten.

Zu Besuch bei "Somebody" unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind
Zu Besuch bei „Somebody“ unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind

Zurück in die Hauptstadt Freetown ging es mit Mamadu und seinem etwas betagten Nissan Sunny, den uns die Leute Tacugamas organisierten. Mamadu schmunzelte, als er von unseren Erlebnissen in Tiwai hörte. Er wäre mit seiner Klappermühle schon mehrmals in Tiwai gewesen. Was sich für mich zunächst ein bisschen nach Geprahle anhörte, interessierte mich dann doch zunehmend, denn schließlich war unsere Reise durch Sierra Leone noch nicht zu Ende und gute Fahrer, die sich auskennen und mit ihrem Wagen, der halt nicht der Monster 4WD ist, auch keine Mondpreise verlangen, findet man in Sierra Leone auch nicht alle Tage. Und schließlich ging es ja erstmal wieder um meine Lieblingsbeschäftigung, dem Geld holen. Und da machte sich Mamadu gleich mal sehr beliebt, da er Tanken musste und die Tanke einen Geldautomaten besaß. Karte rein und lassen wir die Lotterie beginnen! Es kamen tatsächlich 30 Scheine raus, die für ca. eineinhalb Mal auswärts Essen reichen sollten…

Zum nächsten kleinen Abenteuer, zum Glamping auf den Banana Islands holte uns Mamadu wieder pünktlich ab. Auf der Fahrt zum Anleger in Kent hatte ich schon wieder Bammel, dass erneut etwas unvorhergesehenes passiert, da Mamadu plötzlich anhielt, ausstieg und in einem Haus außerhalb von Freetown verschwand. Mit einer Kanne Wasser kam er wieder, öffnete die Motorhaube und goss Wasser in den Kühlwasserbehälter. Später entschuldigte er sich, dass er vergessen hatte, die morgendliche Ration an Wasser nachzufüllen, ach so – kann man ja mal vergessen, in einem Land ohne TÜV und Abgassonderuntersuchung. Problemlos kamen wir am Anleger an und fuhren wenig später mit dem Boot auf die Banana Islands. Dort wurden wir von Makelé empfangen. Die junge Sierra Leonerin managt das „Bafa Resort“ wenn Sam der libanesische Eigentümer in Freetown verweilt, was er die meiste Zeit tat. Makelé hat ein Stipendium an einer Fernuniversität erhalten. Trotzdem muss sie 100 US$ im Monat selbst aufbringen – was nur 20% der gesamten monatlichen Gebühren beträgt. Wenn man dies mit den Studiengebühren in Deutschland vergleicht, sind die Preise hier in Afrika für die Ausblildung fast astronomisch.

Glamping auf den Banana Islands
Glamping auf den Banana Islands

Als Managerin ist sie für den Laden komplett verantwortlich und Chefin über ein Dutzend Insulaner, die hier im Resort arbeiten. Vor dem Ebola-Ausbruch gab es hier sogar eine Tourismus-Schule auf der Insel und das Vermittelte wurde an den vielen Kleinigkeiten sichtbar, wie Stoff-Servieten, Tischdecken und -unterlagen, Solarlampen für die Gäste, die jeden Morgen zum Aufladen abgeholt wurden, einer French Coffee Press statt Nescafé u.v.m. Für Makelé war die praktische Anwendung dessen, was sie im Fernstudium lernte, optimal, konnte sie doch an der Rezeption stundenweise ihrem Studium nachgehen, wenn wir Touris „ruhig“ gestellt waren mit Essen, Hängematte, Kayak etc. Dank des schnellen, mobilen Internets auf einer Insel, auf der es keine Wege, keine Karren, geschweige denn Autos gab, keinen Laden oder sonst irgendwelche Infrastruktur, war sie in der Lage ihren Start ins Berufsleben selbst in die Hand zu nehmen. In manchen Regionen Deutschlands, wo es bis heute keinen Handyempfang gibt, wäre eine solche Geschichte kaum möglich, denn wie war das nochmal mit dem schnellen Internet bei uns auf dem Land?

Das Glamping war wirklich herrlich. In großen Rundzelten, die ich noch aus meiner Kindheit von Ferienlagern im Hunsrück kannte, übernachteten wir dekadenderweise tatsächlich zu zweit, wo wir als Kinder damals zu fünft plus Gruppenleiter pennten. Das war tatsächlich schon glamourös. Auch hier überraschte Sierra Leone uns mal wieder, denn wir konnten wirklich mal richtig Urlaub machen und hatten keine Befürchtung, dass es nichts zu Essen gab oder wir alleine zurückgelassen werden. Zu schnell sind die Tage auf diesem wunderbaren Eiland zu Ende gegangen. Auf der Rückfahrt zum Festland entdeckten wir tatsächlich unseren Fahrer vom Boot aus. Und Mamadu winkte schon vom Anleger entgegen. Auf der Rückfahrt gerieten wir in einen Stau. Im März finden in Sierra Leone Wahlen statt und tatsächlich haben hier die Menschen eine Wahl. Es gibt mehrere Kandidaten, man findet Wahlplakate, die nicht überkritzelt oder zerstört werden und natürlich Kundgebungen, die dann doch ein wenig anders als bei uns ablaufen. Es erinnerte mich eher an einen kleinen Fastnachtsumzug, was sich da vor Mamadus Wagen abspielte. Dieses Mal gab es meine klischeehaft erwartete Trommel-Musik, die aus überdimensionierten Boxen auf einem Pick-Up stammten. Dahinter tanzte das Wahlvolk. Man stelle sich das mal bei uns vor. Die SPD oder die CDU fährt über die Ludwigsstraße in Mainz und alle Wähler tanzen hinterher zu Losungen wie „Bürgerversicherung“ oder „Maut für alle“ – Tanz auf der Lu mal anders!

Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland
Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland

Das Schöne, wenn man mit Leuten wie Saidhu, Makelé oder Mamadu längere Zeit verbringt, ist die Tatsache, dass aufgrund der Amtssprache Englisch wir mit allen dreien ins Gespräch kamen. Während mir in der Vergangenheit Einheimische oft davon erzählten, dass sie langfristig nach Europa wollten, war das in Sierra Leone nie ein Thema. Auf meine naive Frage hin, weil er mit Ausländern ja bereits einige Touren auch nach Tiwai unternommen hatte, ob er schon mal in Liberia oder Guinea war, erzählte mir Mamadu, dass er sogar in Gambia und Senegal war – zum Arbeiten. Im Bürgerkrieg verlor er seine Eltern und war der Älteste von vier Geschwistern. Also war es an ihm, die Familie durchzubringen. Die größte Migration in Afrika findet nicht nach Marokko oder Libyen zur Flucht über das Mittelmeer statt, sondern innerhalb von Afrika. Anscheinend gibt es da einen Welleneffekt. Leute aus Sierra Leone zieht es in etwas wohlhabendere Länder wie Senegal und Senegalesen wollen nach Europa – und bauen hier die Straßen auf der Freetown-Halbinsel (während die Chinesen die großen Überlandstraßen herrichten). Auf meine Frage, warum er wieder nach Sierra Leone zurückkehrte, entgegnete Mamadu entwaffnend, weil es zu Hause doch am Schönsten sei und er seine Geschwister jeden Tag sehen kann. Und es war schön, relativ viel Geld für die Fahrten mit Mamadu auszugeben, mit der Hoffnung, dass möglichst viel davon bei ihm bleibt, denn das Auto gehört seinem Chef. Ein eigenes Auto kann sich Mamadu nicht leisten.

Ein letztes Mal fuhren wir mit ihm zu den wirklich wunderschönen Stränden, die die Hauptstadt Freetown umgeben. Am Lakka Beach konnte man erahnen, dass hier mal der Werbespruch „Die Karibik Westafrikas“ stimmte – vor dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die ehemaligen großen Hotelkomplexe sind überwuchert von Pflanzen. Aber es gibt bereits wieder kleine Gästehäuser, in denen auch Weiße tatsächlich wohnten. Hier lässt sich tatsächlich das Backpacker-Leben leben, das es auch mal vor 30 oder 40 Jahren in Thailand, Goa oder Bali gab. Diese Regionen sind ja heute mit Bettenburgen durchzogen, die Familie Müller-Meier-Schmidt bucht ihren All-inclusive-Urlaub dort, bei dem die Einheimischen praktisch kaum einen Cent erhalten und von einem „Lonely Planet“ kann da wahrlich nicht mehr die Rede sein. Es bleibt zu hoffen, dass Sierra Leone seinen Weg der stabilen Demokratie weitergeht, von Katastrophen verschont bleibt, damit das Auswärtige Amt weiterhin keinen Reisehinweis geben muss, außer vielleicht dem, dass sich eine Reise hierhin wirklich lohnt, möchte man mal abseits der austrampelten Touristenpfade unterwegs sein und mit seinem Geld, direkt Leuten vor Ort helfen, so dass man mit dafür sorgt, dass diese ihr Auskommen haben, vom Tourismus leben können und gerne in ihrer Heimat ihre Zukunft gestalten können.