Sierra Leone 2017 letzter Teil

Die Gefahr, dass Fremde davon Wind bekommen, dass hier zwei Touris alleine ausharren und man diese vergewaltigen oder direkt abschlachten könnte, bevor man sich ihrer Barreserven bemächtigte, schätzten wir als nicht sehr hoch ein – auszuschließen war es aber auch nicht wirklich. Ich hatte irgendwie eher das ungute Gefühl, dass die Leute vielleicht bis in die Puppen feiern und uns schlicht vergessen würden. Ich war mir nicht im Klaren darüber, warum ich so misstrauisch war – aber vielleicht wird man das mit der Zeit, wenn man Jahr ein Jahr aus stetig schlimmere Nachrichten zur Kenntnis nimmt und mit der Zeit einfach nur noch den „Worst Case“ als plausibelste Möglichkeit annimmt.

Nachdem wir uns im Visitors Centers gegenseitig genug verrückt gemacht hatten, entschlossen wir uns trotzdem so zu tun, als wäre alles normal und wir legten uns schlafen, während wir in der tollsten Natur, die ätzende Zivilisation in Form von nervender Musik mitbekamen. Vor Jahren auf meiner Weltreise lernte ich auf der Zugfahrt von Malaysia nach Thailand einen sehr weit gereisten Niederländer kennen. Wir quatschten damals einen Großteil der Fahrt natürlich übers Reisen. Peter meinte damals, man bräuchte einfach immer einen Plan B. So überlegte ich mir in den folgenden Stunden meinen Plan B, falls wir die Nacht überleben sollten und uns am Morgen niemand Kaffee servieren würde. Essen hatten wir praktisch keines mehr. Es gab auch nichts wie Früchte oder Gemüse, was man hätte verzehren können. Wasser gab es ungefiltert aus dem Fluss, das für die Klos und die Dusche genutzt wurde. Vielleicht gab es an der Feuerstelle ein Feuerzeug, so dass wir Wasser hätten abkochen können. Strom gab es dank der Solarzellen, sodass das iPhone mit dem Navi drauf, das über Satellit funktioniert, einwandfrei zu gebrauchen gewesen wäre. Wir hätten es somit höchstwahrscheinlich zur anderen Seite der Insel durch den Dschungel geschafft. Dort war zwar kein Dorf, aber der Fluss war so tief nicht, so dass wir womöglich hätten durch stiefeln können. Zwei Dinge, die ich in der Nacht noch nicht wusste, hätten meinen Plan B im Nachhinein als ziemlich dämlich entlarvt: Es gab Krokodile im Fluss und es gab einen Fußweg vom Visitors Center nicht nur zur ca. 200 m entfernten Anlegestelle der Boote sondern auch einen Fußweg nach Norden, der zu einer Bucht führt, die sich direkt gegenüber der Anlegestelle des anderen Dorfes befand. So hätten wir problemlos auf uns aufmerksam machen können – weil diese auch gleichzeitig als „Waschmaschine“ und „Bad“ des Dorfes fungierte und während des Tages sich eigentlich immer jemand dort aufhielt, um im Fluss Wäsche zu waschen oder sich zu reinigen.

Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai
Ein Agame, unser Haustier im Zelt in Tiwai

Irgendwann fiel ich in einen Halbschlaf und bemerkte später, dass die Party wohl zu Ende war, da keine Musik mehr zu meinen Ohren durchdrang. Oropax hatte ich lieber nicht in die Ohren gesteckt – man möchte ja seine „Angreifer“ dann doch noch möglichst früh bemerken – eine dämliche Vorstellung zwar, aber in dieser Situation war mit Rationalität in etwa so viel anzufangen, wie bei einem 05-Spiel im Gästeblock. Als ich plötzlich Stimmen hörte, war mir relativ sicher, dass es die Dorfbewohner waren und nicht irgendwelche Räuber und Vergewaltiger. In dieser Nacht näherte sich tatsächlich niemand mehr unserem Zelt und ich schlief irgendwann erschöpft ein.

Am nächsten Tag stand pünktlich um sieben nicht nur der Kaffee auf dem Tisch, sondern auch unser Guide zum Waldspaziergang nebem dem Tisch. Er stank bestialisch nach Alkohol und vielleicht war das der Grund, warum wir an diesem Morgen weniger Affen entdeckten als am Morgen zuvor. Trotzdem genossen wir unser Leben, freuten uns, dass dieses genauso wie diese Reise weiterging und konnten es dann doch recht gut verkraften, nicht so viele Primaten vor die Linse zu bekommen. Am späten Vormittag fragten wir nach, ob und wann, wie irgendwie tags zuvor vereinbart, das Dorf zu besuchen sei. Plötzlich war ein Boot und der Bootsjunge da und auch der Dorfspaziergang funktionierte schließlich einwandfrei. Die Leute bauten allerlei Obst und Gemüse an und fischten im Fluss, um ihren Hunger zu stillen. Wie die fünf anderen Tiwai umgebenden Dörfer profitierte auch Kambama von unserem Aufenthalt. Tiwai Island ist eine Kooperative, zu der sich die Dörfer rund um die Insel zusammenschlossen, um Ökotourismus aufzubauen. Von den Einnahmen wurden Infrastrukturprojekte gefördert und die Menschen lernten, dass es sich finanziell am Ende mehr lohnt, die Affen zu schützen, statt zu fangen, um sie zu essen oder zu verkaufen.

Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang
Ein roter Colobus-Affe beobachtet uns beim Waldspaziergang

Nachdem es spätnachmittags nochmals auf Bootsfahrt in den Sonnenuntergang ging, kamen tatsächlich, wie drei Tage vorher angekündigt, unsere beiden Helfer vom ersten Tag aus Mapuma, dem anderen Dorf. Und mit dem letzten Licht des Tages bekamen wir dann sogar noch Zuwachs an Touristen. Eine Italienerin, die 8 Jahre in Sierra Leone Entwicklungshilfe leistete, schaute mir ihrem Sierra-leonischen Freund vorbei. Sie war erst mal überrascht, überhaupt Weiße zu treffen. Sie fragte uns, was wir in Sierra Leone machten. Wir entgegneten ihr „Urlaub“. Sie meinte, ja klar, aber was uns letztlich tatsächlich hierher trieb, sprich für welche Firma oder welches Projekt wir arbeiten würden. Als wir entgegneten, wir seien wirklich stinknormale Touris, konnte sie es kaum glauben. Die dritte Nacht auf Tiwai Island schlief ich beruhigt ein, schließlich waren wir nicht alleine. Nachts wachte ich plötzlich doch panisch auf, da mein Kopf juckte. Ich dachte an Flöhe oder an die beiden Agamen, Eidechsen-ähnliche Reptilien, die im Zelt mit uns lebten, war aber zu müde, um den wahren Grund herauszufinden. Am nächsten Morgen merkte ich, dass Ameisen ihre Straße über meinen Kopf umgeleitet hatten – daher also dieses Kratzen und Jucken auf der Kopfhaut.

Einfach mal so nach Sierra Leone zu fahren – das macht wohl wirklich fast niemand. Und so ist es wenig verwunderlich, dass wir in Tiwai dann so eine emotionale Achterbahnfahrt mitgemacht haben. Sicherlich hat den Dorfbewohnern niemand wirklich mal erklärt, was Touristen neben Essen und Trinken wirklich wollen, sprich, eigentlich immer Bescheid wissen, wann es was gibt, also, dass es dann und dann Mittag- oder Abendessen gibt, um soundsoviel Uhr die Dorfbesichtigung stattfindet etc. Und dass Touris nicht alleine gelassen werden möchten – auch nicht 6 Stunden für die Hälfte der Nacht, weil Dorffest ist. Das ganze kann man den Leuten gar nicht vorwerfen, und vielleicht stellten wir uns auch ein wenig memmenhaft an, aber wir waren trotz der herrlichen Natur wirklich froh, am nächsten Morgen zu Fuß wieder 5 km durch den Dschungel zur anderen Inselseite zu wandern und der Insel den Rücken zu kehren. Mit den Einbäumen ging es ruck zuck über den Fluss und wir hofften darauf, dass Saidhu schon am Ufer mit seinem Nissan stand. Es war erst viertel vor neun und wir hatten neun Uhr ausgemacht – von daher hielt sich unsere Enttäuschung in Grenzen als kein Saidhu vom Ufer her winkte und die Zivilisation in Form des Nissan direkt am Ufer parkte. Wir marschierten mit den Jungs ins paar Hundert Meter entfernte Dorf und hier fing schon wieder das Kopfkino an.

Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer
Der belebte Waschsteg am anderen Flussufer

Die Leute von Tiwai Island wollten Saidhu eigentlich noch anrufen, uns im anderen Dorf abzuholen, da die Strecke wesentlich kürzer sei. Aber angeblich hatte ihn niemand erreicht. Wir hatten allerdings die Befürchtung, es hätte ihn doch jemand erreicht und nun würde er vergeblich in Kambama auf uns warten. In Mapuma, unserem Dorf, wurden wir inzwischen von einer großen Schar an Kindern neugierig begutachtet. Der Dorfälteste kam, stellte sich vor und wir erhielten zur Begrüßung zwei Kokosnüsse in die Hand gedrückt. Die Bewohner bemerkten die aufkommende Verzweiflung in unseren Gesichtern, wo Saidhu wohl blieb, und man fragte nach seiner Telefonnummer. Ich gab sie den freundlichen Helfern, meinte aber, man hätte hier doch eh keinen Empfang. Aber es gab genau an einer Stelle tatsächlich ein paar Streifen auf dem Handydisplay. Diese „Telefonzelle“ war tatsächlich mit Stöcken markiert, nur Saidhu nahm nicht ab – was mich wiederum wenig verwunderte, da er bestenfalls unterwegs war und keinen Empfang hatte. Um zwanzig nach neun probierten wir die Nummer der Autovermietung in Freetown, die angeblich 24 Stunden am Tag erreichbar war – ich hörte das Freizeichen, aber auch hier nahm niemand ab – es war schließlich Sonntag Morgen, kurz vor halb zehn in Sierra Leone.

Plan B! Sollten wir ja immer griffbereit haben. Und somit fragte ich, wie man denn ins 47 km gelegene Kenema käme, dem Beginn der Teerstraße. „Mit dem Motorradtaxi“ war die Antwort. An diese habe ich noch sehr schlechte Erinnerungen, da ich 1999 mit diesem einen Unfall in Benin hatte. Der Fahrer freute sich damals so dermaßen, einen Touri zu einem wohl dermaßen guten Preis die paar Kilometer zu fahren, dass er weder nach links noch noch rechts blickte, die Kreuzung einfach überquerte und uns ein von rechts kommendes Auto streifte, so dass wir fast drauf gegangen wären. Mein Wadenbeinbruch wurde erst rund drei Wochen später in Deutschland diagnostiziert – nachdem ich auf der Meenzer Fassenacht und dem dazugehörigen „Finther Zug der Lebensfreude“ ein Krachen im Bein vernahm. Der Arzt, den ich dann am Aschermittwoch konsultierte, meinte, der Knochen sei in der Zwischenzeit wieder zusammengewachsen und beim Fastnacht feiern nochmals gebrochen. Meine Begeisterung für Motorradtaxis hielt sich also an diesem Sonntag Morgen in Sierre Leone deutlich in Grenzen.

Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen
Saidhu, unser Fahrer, ist in Mapuma angekommen

Während ich gerade in die Preisverhandlungen einsteigen wollte, hörte ich ein Motorengeräusch und ein paar Sekunden später bog der weiße Nissan mit Saidhu hinterm Steuer um die Ecke. Die pure Erleichterung fiel mir wohl wirklich aus dem Gesicht heraus. Das beste an der Situation war die Tatsache, dass wir uns für die Gastfreundschaft der Bewohner Mapumas revanchieren konnten, indem wir einen unserer Begleiter von der Insel bis kurz vor Freetown und eine Frau zum Markt nach Kenema mit ihren Gemüsekörben mitnehmen konnten. So hatten die Dorfbewohner tatsächlich noch etwas davon, dass Touris mit dröhnenden Riesenautos in ihr Dorf kommen. Für das Telefonieren wollte ich natürlich auch den Telefonisten entschädigen, dieser fragte nur verständnislos zurück, wieso das denn? Hm, weil ich in einer anderen Welt gelernt habe, dass man helfenden Leuten ihre Auslagen ersetzt, wenn man dazu finanziell in der Lage ist. Ich fragte geistesgegenwärtig, ob man vielleicht das Geld der Dorfgemeinschaft spenden könnte, was dann tatsächlich wohlwollend entgegen genommen wurde. Soviel Altruismus von Menschen, die selbst nicht viel haben und dann noch Touris aus der Klemme helfen möchten – ich war überwältigt.

Die Fahrt zurück auf die Freetown-Halbinsel verlief dann wieder vollkommen ereignislos, was in Sierra Leone auch einfach mal schön sein kann. Bemerkenswert fand ich allerdings die riesigen Plakate am Straßenrand, die auf mich wirkten, als würde das ganze Land gerade versuchen, sämtliche Missstände und Probleme anzugehen: Während bereits vor den Einreiseschaltern am Flughafen auf den Kampf gegen Korruption hingewiesen wurde, las ich im Abstand weniger Kilometer, dass man Ebola-Opfer nicht ausgrenzen sollte – während die Schilder, Ebola-Fälle umgehend per SMS zu melden, langsam verrotteten. Es wurde für HIV-Tests geworben und darauf hingewiesen, dass eine HIV-freie Geburt von Kindern möglich sei – eines der ganz großen Probleme Afrikas. Schließlich sind in manchen Ländern ein Viertel der Bevölkerung HIV positiv. Glücklicherweise gehen die Neuansteckungen zurück und solche Plakate lassen wenigstens ein Stück weit positiv in die Zukunft blicken. Auch der Gewalt gegen Frau wird plakativ ein großes „NO“ entgegen gestellt. Was mich ebenfalls beeindruckt hat, waren die bunten Plakate des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), die mir mit den „Substainable Development Goals“ bis 2030 ins Auge gesprungen sind: Neben Umweltaspekten, geht es hier um die Gleichstellung von Frau und Mann und eine Reduzierung von Ungleichheiten. Es wäre zu wünschen, wenn sich Teile dieser Ziele tatsächlich in den nächsten Jahren realisieren lassen würden – nicht nur in Sierra Leone, sondern auch bei uns zu Hause.

Angenehme Übernachtung in Tacugama
Angenehme Übernachtung in Tacugama

Statt zurück in die Hauptstadt zu düsen, ging es ins Schimpansen-Reservat Tacugama, um, wie anfangs berichtet, „Somebody“, unser Schimpansen-Kind zu besuchen. Tacugama wurde bereits 1995 gegründet, um die Schimpansen Sierra Leones vor der Ausrottung zu schützen. Das Gesetz in Sierra Leone verbietet es, Schimpansen zu fangen, um diese entweder als Haustier zu halten, diese als „Bushmeat“ zu essen oder zu verkaufen. Damit dieses Gesetz auch Wirkung entfaltet, erhalten die konfiszierten Schimpansen in Tacugama ein neues Zuhause. Mittelfristig sollen diese wieder auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden, was bisher allerdings noch nicht gelang. Durch Schulungen versucht man die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es einen Mehrwert bringt, Schimpansen zu schützen, damit Touris wie wir kommen und Geld im Land lassen – mehr Geld, als man mit dem Verkauf von Schimpansen machen kann. Nach der verheerenden Schlammlawine, die die Umgebung Tacugamas im August letzten Jahres heimsuchte und mehr als 400 Leute unter sich begrub, kümmerte sich Tacugama zunächst um die Waisenkinder und beginnt nun mit der Aufforstung des Gebiets. Schließlich handelte es sich nicht ausschließlich um eine Naturkatastrophe. Vielmehr war dieses Unglück durch die illegale Rodung von Wald auch menschengemacht.

Nach den Nächten von Tiwai im Zelt genossen wir es, in einer kleinen Rundhütte in den Bergen der Freetown-Halbinsel zu chillen und nur ab und zu die Geräusche der Schimpansen zu vernehmen. Nachts „schimpfte“ es dann plötzlich aus dem Geäst. Ein Galago, auch als Buschbaby bekannter, Feuchtnasenaffe fand es wohl wenig erbauend, dass wir in seinem Revier den Geräuschen der tropischen Nacht lauschten. Mit den Stirnlampen erkannten wir das nachtaktive Tier an seinen riesigen Ohren und großen runden Augen. Lustigerweise konnten wir in Tacugama vor den Toren der Hauptstadt Freetown nun endlich die Nachtruhe genießen, die wir in Tiwai teilweise vermisst hatten.

Zu Besuch bei "Somebody" unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind
Zu Besuch bei „Somebody“ unserem Adoptiv-Schimpansen-Kind

Zurück in die Hauptstadt Freetown ging es mit Mamadu und seinem etwas betagten Nissan Sunny, den uns die Leute Tacugamas organisierten. Mamadu schmunzelte, als er von unseren Erlebnissen in Tiwai hörte. Er wäre mit seiner Klappermühle schon mehrmals in Tiwai gewesen. Was sich für mich zunächst ein bisschen nach Geprahle anhörte, interessierte mich dann doch zunehmend, denn schließlich war unsere Reise durch Sierra Leone noch nicht zu Ende und gute Fahrer, die sich auskennen und mit ihrem Wagen, der halt nicht der Monster 4WD ist, auch keine Mondpreise verlangen, findet man in Sierra Leone auch nicht alle Tage. Und schließlich ging es ja erstmal wieder um meine Lieblingsbeschäftigung, dem Geld holen. Und da machte sich Mamadu gleich mal sehr beliebt, da er Tanken musste und die Tanke einen Geldautomaten besaß. Karte rein und lassen wir die Lotterie beginnen! Es kamen tatsächlich 30 Scheine raus, die für ca. eineinhalb Mal auswärts Essen reichen sollten…

Zum nächsten kleinen Abenteuer, zum Glamping auf den Banana Islands holte uns Mamadu wieder pünktlich ab. Auf der Fahrt zum Anleger in Kent hatte ich schon wieder Bammel, dass erneut etwas unvorhergesehenes passiert, da Mamadu plötzlich anhielt, ausstieg und in einem Haus außerhalb von Freetown verschwand. Mit einer Kanne Wasser kam er wieder, öffnete die Motorhaube und goss Wasser in den Kühlwasserbehälter. Später entschuldigte er sich, dass er vergessen hatte, die morgendliche Ration an Wasser nachzufüllen, ach so – kann man ja mal vergessen, in einem Land ohne TÜV und Abgassonderuntersuchung. Problemlos kamen wir am Anleger an und fuhren wenig später mit dem Boot auf die Banana Islands. Dort wurden wir von Makelé empfangen. Die junge Sierra Leonerin managt das „Bafa Resort“ wenn Sam der libanesische Eigentümer in Freetown verweilt, was er die meiste Zeit tat. Makelé hat ein Stipendium an einer Fernuniversität erhalten. Trotzdem muss sie 100 US$ im Monat selbst aufbringen – was nur 20% der gesamten monatlichen Gebühren beträgt. Wenn man dies mit den Studiengebühren in Deutschland vergleicht, sind die Preise hier in Afrika für die Ausblildung fast astronomisch.

Glamping auf den Banana Islands
Glamping auf den Banana Islands

Als Managerin ist sie für den Laden komplett verantwortlich und Chefin über ein Dutzend Insulaner, die hier im Resort arbeiten. Vor dem Ebola-Ausbruch gab es hier sogar eine Tourismus-Schule auf der Insel und das Vermittelte wurde an den vielen Kleinigkeiten sichtbar, wie Stoff-Servieten, Tischdecken und -unterlagen, Solarlampen für die Gäste, die jeden Morgen zum Aufladen abgeholt wurden, einer French Coffee Press statt Nescafé u.v.m. Für Makelé war die praktische Anwendung dessen, was sie im Fernstudium lernte, optimal, konnte sie doch an der Rezeption stundenweise ihrem Studium nachgehen, wenn wir Touris „ruhig“ gestellt waren mit Essen, Hängematte, Kayak etc. Dank des schnellen, mobilen Internets auf einer Insel, auf der es keine Wege, keine Karren, geschweige denn Autos gab, keinen Laden oder sonst irgendwelche Infrastruktur, war sie in der Lage ihren Start ins Berufsleben selbst in die Hand zu nehmen. In manchen Regionen Deutschlands, wo es bis heute keinen Handyempfang gibt, wäre eine solche Geschichte kaum möglich, denn wie war das nochmal mit dem schnellen Internet bei uns auf dem Land?

Das Glamping war wirklich herrlich. In großen Rundzelten, die ich noch aus meiner Kindheit von Ferienlagern im Hunsrück kannte, übernachteten wir dekadenderweise tatsächlich zu zweit, wo wir als Kinder damals zu fünft plus Gruppenleiter pennten. Das war tatsächlich schon glamourös. Auch hier überraschte Sierra Leone uns mal wieder, denn wir konnten wirklich mal richtig Urlaub machen und hatten keine Befürchtung, dass es nichts zu Essen gab oder wir alleine zurückgelassen werden. Zu schnell sind die Tage auf diesem wunderbaren Eiland zu Ende gegangen. Auf der Rückfahrt zum Festland entdeckten wir tatsächlich unseren Fahrer vom Boot aus. Und Mamadu winkte schon vom Anleger entgegen. Auf der Rückfahrt gerieten wir in einen Stau. Im März finden in Sierra Leone Wahlen statt und tatsächlich haben hier die Menschen eine Wahl. Es gibt mehrere Kandidaten, man findet Wahlplakate, die nicht überkritzelt oder zerstört werden und natürlich Kundgebungen, die dann doch ein wenig anders als bei uns ablaufen. Es erinnerte mich eher an einen kleinen Fastnachtsumzug, was sich da vor Mamadus Wagen abspielte. Dieses Mal gab es meine klischeehaft erwartete Trommel-Musik, die aus überdimensionierten Boxen auf einem Pick-Up stammten. Dahinter tanzte das Wahlvolk. Man stelle sich das mal bei uns vor. Die SPD oder die CDU fährt über die Ludwigsstraße in Mainz und alle Wähler tanzen hinterher zu Losungen wie „Bürgerversicherung“ oder „Maut für alle“ – Tanz auf der Lu mal anders!

Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland
Rückfahrt von den Banana Islands ans Festland

Das Schöne, wenn man mit Leuten wie Saidhu, Makelé oder Mamadu längere Zeit verbringt, ist die Tatsache, dass aufgrund der Amtssprache Englisch wir mit allen dreien ins Gespräch kamen. Während mir in der Vergangenheit Einheimische oft davon erzählten, dass sie langfristig nach Europa wollten, war das in Sierra Leone nie ein Thema. Auf meine naive Frage hin, weil er mit Ausländern ja bereits einige Touren auch nach Tiwai unternommen hatte, ob er schon mal in Liberia oder Guinea war, erzählte mir Mamadu, dass er sogar in Gambia und Senegal war – zum Arbeiten. Im Bürgerkrieg verlor er seine Eltern und war der Älteste von vier Geschwistern. Also war es an ihm, die Familie durchzubringen. Die größte Migration in Afrika findet nicht nach Marokko oder Libyen zur Flucht über das Mittelmeer statt, sondern innerhalb von Afrika. Anscheinend gibt es da einen Welleneffekt. Leute aus Sierra Leone zieht es in etwas wohlhabendere Länder wie Senegal und Senegalesen wollen nach Europa – und bauen hier die Straßen auf der Freetown-Halbinsel (während die Chinesen die großen Überlandstraßen herrichten). Auf meine Frage, warum er wieder nach Sierra Leone zurückkehrte, entgegnete Mamadu entwaffnend, weil es zu Hause doch am Schönsten sei und er seine Geschwister jeden Tag sehen kann. Und es war schön, relativ viel Geld für die Fahrten mit Mamadu auszugeben, mit der Hoffnung, dass möglichst viel davon bei ihm bleibt, denn das Auto gehört seinem Chef. Ein eigenes Auto kann sich Mamadu nicht leisten.

Ein letztes Mal fuhren wir mit ihm zu den wirklich wunderschönen Stränden, die die Hauptstadt Freetown umgeben. Am Lakka Beach konnte man erahnen, dass hier mal der Werbespruch „Die Karibik Westafrikas“ stimmte – vor dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die ehemaligen großen Hotelkomplexe sind überwuchert von Pflanzen. Aber es gibt bereits wieder kleine Gästehäuser, in denen auch Weiße tatsächlich wohnten. Hier lässt sich tatsächlich das Backpacker-Leben leben, das es auch mal vor 30 oder 40 Jahren in Thailand, Goa oder Bali gab. Diese Regionen sind ja heute mit Bettenburgen durchzogen, die Familie Müller-Meier-Schmidt bucht ihren All-inclusive-Urlaub dort, bei dem die Einheimischen praktisch kaum einen Cent erhalten und von einem „Lonely Planet“ kann da wahrlich nicht mehr die Rede sein. Es bleibt zu hoffen, dass Sierra Leone seinen Weg der stabilen Demokratie weitergeht, von Katastrophen verschont bleibt, damit das Auswärtige Amt weiterhin keinen Reisehinweis geben muss, außer vielleicht dem, dass sich eine Reise hierhin wirklich lohnt, möchte man mal abseits der austrampelten Touristenpfade unterwegs sein und mit seinem Geld, direkt Leuten vor Ort helfen, so dass man mit dafür sorgt, dass diese ihr Auskommen haben, vom Tourismus leben können und gerne in ihrer Heimat ihre Zukunft gestalten können.

Sierra Leone 2017

Vorfreude ist sicherlich die schönste Freude und so durfte ich mich auf die Reise nach Westafrika in das kleine Land Sierra Leone seit dem Sommer 2017 freuen. Damals hatten wir „Somebody“ ein Schimpansenweibchen im Tacugama Chimpanzee Wildlife Sanctuary „adoptiert“ und fanden die Möglichkeit, unser „Kind“ nicht nur finanziell zu unterstützen sondern auch persönlich zu besuchen extrem spannend.


Schließlich stellt sich die Frage, was wir mit Sierra Leone verbinden: Ebola ist sicher jedem ein Begriff und an den Bürgerkrieg um Blutdiamanten, der mit Kindersoldaten ausgefochten wurde, kann sich vielleicht die eine oder der andere auch noch erinnern. Aber wie sieht es in diesem Land mittlerweile aus? Von Flüchtlingen aus Sierra Leone hört man in Deutschland gar nichts und im Weltspiegel habe ich seit dem Ende von Ebola auch keinen Bericht mehr gesehen. Das Auswärtige Amt stellt nüchtern fest „Für dieses Land besteht derzeit kein landesspezifischer Sicherheitshinweis.“ – daher wird wohl in den Medien auch nicht darüber berichtet. Schließlich existieren die meisten der 195 Länder, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, medial schlicht nicht, wenn sich dort keine Naturkatastrophe ereignet, sich niemand in die Luft sprengt, dort eine Seuche ausbricht, die auch uns in der westlichen Welt gefährlich werden könnte, oder sonst etwas Schlimmes passiert.

Am Lumley Beach von Freetown
Am Lumley Beach von Freetown

Dass mal explizit über etwas Gutes berichtet wird oder über Länder, an denen wir uns in Deutschland ein Beispiel nehmen könnten, ist leider die Ausnahme. Es dreht sich die Berichterstattung mehr oder weniger immer wieder um dieselben ca. 20 bis 30 Länder: Die USA geht immer, egal wer da an der Macht ist, Mexiko als Beispiel für den Drogenkrieg nachdem diese Geschichte in Kolumbien nicht mehr so funktioniert, Kuba für Kommunismus-Romantiker, Brasilien als Beispiel für Korruptionssumpf und Südafrika als Beispiel, wie zu große Erwartungen zum Scheitern verurteilt sind. Der Nahe Osten als Drama geht immer, da dort seit Jahrzehnten die Hütte brennt, und Korea geht neuerdings wieder gut – dem kindischen Wer-hat-den-größeren-Knopf-Vergleich sei Dank. Und die Volksrepublik China als zukünftige beherrschende Weltmacht rückt genauso wie das Russland Putins immer mal wieder in den Fokus, aber die restlichen 165 Staaten unserer Welt? Die fallen irgendwie durchs Raster der Berichterstattung.


Also ab ins Impfzentrum, die notwendigen Spritzen setzen lassen, das Visum-Formular ausfüllen und den Pass nach Berlin zur Botschaft Sierra Leones schicken. Schließlich bin ich der Meinung, dass es noch genügend andere Länder auf diesem Planeten gibt, über die ich etwas erfahren möchte. Wenn man darüber nichts erfährt, heißt das ja nicht, dass es dort nichts zu sehen gibt. Als der Pass nach ein paar Tagen mit der Visum-Nummer 47 bzw. 48 ohne Zusatz der Jahreszahl zurückkam, schwante mir schon, dass es wohl nicht so viele Menschen nach Sierra Leone zieht. Dieser Umstand steigerte in mir weiter die Neugierde auf dieses Land. Schließlich war ich in dieser Region 1999 das letzte Mal unterwegs gewesen und hatte damals schon gehofft, es mal irgendwann wieder nach Westafrika zu schaffen.

Der Vorort Aberdeen bei Freetown
Der Vorort Aberdeen bei Freetown

Der Landeanflug im Licht der untergehenden Sonne war eine schöne Einstimmung auf Afrika. Minutenlang schwebten wir über unberührten Mangrovensümpfen der Landebahn entgegen. Während an anderen Flughäfen die Umgebung hell beleuchtet ist, war es hier stockfinster und ein weiteres Flugzeug vor dem kleinen Terminal des Lungi International Airport war gar nicht auszumachen. Die Treppe wurde herangerollt – Fluggastbrücken wären hier die pure Dekadenz – und raus ging es in die afrikanische Schwüle.


Hatte ich mich im Oktober 2017 in Armenien noch darüber echauffiert, dass Geldautomaten grundsätzlich immer nur die höchsten Scheine ausspucken, galt dies zwar auch hier für die Geldwechsler, aber der höchste Geldschein (10.000 Leones) entspricht leider nur 1,25 € und somit erhielt ich für meine 100 € mehrere Geldbündel mit 10.000er und 5.000er Leones-Noten, schön verpackt in einem Briefumschlag, der sich aber aufgrund des Volumens der Geldscheine gar nicht schließen lassen konnte. Wie in einem Mafiafilm stopfte ich die Kohle in die Tasche und weiter ging es zur Gepäckausgabe. Die Passagiere wühlten auf dem Gepäckband alle Koffer und Taschen umher und so flog mein Rucksack vom Band – leider auf die Innenseite, so dass ich in einem Spagat bei laufendem Band versuchen musste, mir das gute Stück zu angeln. Unter großem Gelächter der umstehenden Leute gelang dies mir schließlich, und es ging hinaus aus dem kleinen Flughafen.

Der Anleger am Lungi-Airport
Der Anleger am Lungi-Airport

Wie an vielen Flughäfen der Welt standen dort Abholer und Geschäftemacher herum, aber wir wurden nicht belagert und mit „Taxi, Taxi“-Geschrei konfrontiert. Nein, es war tatsächlich möglich, zu fragen, wo Lamin sei, der uns abholen sollte. Dieser sei gerade unterwegs, wir sollten uns einfach dort hinten hinstellen und warten. Ein paar Sekunden später kam Lamin tatsächlich und organisierte unsere Weiterfahrt. Der Lungi Airport steht vielleicht ein wenig stellvertretend für das ganze Land Sierra Leone: Es ist nicht so einfach hier herum zu kommen, doch es funktioniert am Ende alles und es macht alles einen guten Eindruck auf uns. Konkret hieß dies hier, Lamin besorgte uns die Tickets für den Sea Coach Express – ein Wassertaxi, das uns über die riesige Tagrin Bucht direkt nach Freetown bringen sollte. Das Gepäck wurde in Jeeps geladen und auf einem separaten Boot in die Stadt gebracht. Wir durften uns jetzt zwischen „Orange“ und „Africell“ entscheiden, denn Roaming mit T-Online, Vodafone und Co. gibt es nicht. Gleichzeitig läuft in Afrika vieles über Telefon, so dass ein funktionsfähiges Handy unabdingbar ist.


Dann ging es schon ab in den Shuttle-Bus, der uns zum Anleger brachte. Im Wassertaxi lief dann zu meinem Erstaunen im Fernsehen Championsleague. Später merkte ich, dass eigentlich immer Fußball im Fernsehen gezeigt wurde, sogar das Pokalspiel von Mainz 05 gegen Stuttgart und das in Sierra Leone. Die Nullfünfer (hier Zerofivers) kannten alle Fußballinteressierten selbstverständlich, obwohl die Präferenz immer in Richtung Premier League ging und wenn dann Deutschland dann natürlich immer der FC Bayern, nun ja. Leider ist der Spielbetrieb im eigenen Land seit 2014 ausgesetzt, wegen der verheerenden Ebola-Epidemie. Rein theoretisch wäre es längst wieder möglich zu spielen, meinte später einer unserer Fahrer, aber die Verbandspräsidentin und die sie umgebende Männerriege haben es bisher nicht hinbekommen. So bleibt den Fußballbegeisterten in Sierra Leone nur der Kick am Strand, der sonntags insbesondere an den Stränden von Freetown mit Begeisterung zelebriert wird.

Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge
Das Wassertaxi zwischen Lungi Airport und Aberdeen Bridge

Am Fähranleger stand schon unser Gepäck bereit und weiter ging es mit einem Taxi-Jeep ins Hotel. Für die 2,5 km lange Fahrt wurden umgerechnet 9 € fällig – hätten wir das im Voraus online gebucht, wären uns sogar 20 US$ oder über das Hotel 37 US$ berechnet worden. So bekamen wir schon eine Vorahnung, dass erstens diese Reise nicht gerade günstig werden würde und es einfach meist totaler Quatsch ist, jede Dienstleistung vorab zu buchen. Wie in jedem Reiseführer über die Tropen empfohlen, hielten wir uns tatsächlich mal dran, am nächsten Tag nichts großes zu machen, außer meiner „Lieblingsbeschäftigung“ für die nächsten Wochen nachzugehen: Dem Geld besorgen! Wir waren mit recht viel Bargeld ausgestattet, weil wir das Liquiditätsproblem bereits bei der Reisevorbereitung mitbekamen, aber dass es tatsächlich einem Glücksspiel glich, im Geldautomaten den Jackpot zu knacken und mal 30 oder 40 Scheine zu erhalten (was dann ca. 35 bis 45 € entsprach), das überraschte mich dann doch. Im Umfeld des Hotels gab es insgesamt 3 Geldautomaten und bei insgesamt ca. 20 Versuchen, gelang es uns tatsächlich zweimal Geld abzuheben! Mit der Kreditkarte zu bezahlen war außerhalb von Freetown auch nicht möglich, so dass dieser Trip auch buchhalterisch echt spannend werden würde.


Saidhu unser Fahrer des riesigen Nissan Patrol, wartete am nächsten Tag schon eine Stunde vor der mit seinem Boss vereinbarten Abfahrtszeit vor dem Hotel auf uns. Dafür hielt es sein Chef für nicht notwendig, Saidhu zu erzählen, dass wir die nächsten vier Tage „upcountry“ vorhatten zu fahren, und nicht abends wieder in Freetown zurück sein wollten. Unser Ziel, das Naturreservat Tiwai Island, kannte Saidhu auch nur vom Hörensagen. Mein Optimismus, leicht und locker die 350 km innerhalb von 4 bis 5 Stunden zurückzulegen verflüchtigte sich dementsprechend ganz schnell. Natürlich war es vollkommen ok, dass wir als Erstes zu Saidhu nach Hause fahren, damit dieser sich ein paar Klamotten holen konnte, bevor es auf die große Reise ging. Anscheinend wollte er auch noch ein paar Worte mit seinem Chef wechseln, denn als nächstes fuhren wir zu Cerra Automotive – unserem „Vermieter“. Mietwagen im klassischen Sinne gibt es in Sierra Leone noch nicht. Es werden ausschließlich große Geländewagen mit Fahrer feil geboten. Angeblich würden die Einheimischen so chaotisch fahren, dass es Ausländern nicht zugemutet werden kann, selbst zu fahren. Darüber kann man geteilter Meinung sein, denn hier wurde nicht anders gefahren als auf Mauritius, Indonesien oder in Argentinien – Ländern, in denen ich selbst schon hinterm Steuer saß. Aber natürlich generiert diese Vorgabe Jobs und mit Saidhu unterwegs zu sein, war sehr angenehm. Zwar war irgendwie nicht wirklich abgeklärt, wer für die Übernachtung des Fahrers und seine Verpflegung aufkommen sollte, da es zunächst hieß, wir sollten das übernehmen, später hieß es dann, die Mietwagenfirma übernimmt das. Diese Ungewissheit zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Reise in Sierra Leone – man wusste nicht immer über alles Bescheid. Wir gewöhnten uns notgedrungen an diese ständig neuen Situationen, in denen wir nicht wussten, wie es jetzt weitergeht. Daher sei einem Reisenden, mit Hang zum Kontrollwahn, eine Reise nach Sierra Leone vielleicht nicht unbedingt zu empfehlen.

Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma
Der Start der unbefestigten Straße nach Mapuma

Schließlich ging es dann endlich raus aus Freetown – auf gut ausgebauter Straße! Schon im Flugzeug sind mir die vielen asiatisch aussehenden Passagiere aufgefallen. Und Saidhu erklärte auf meine Frage, wer diese gute Straße gebaut hat, dass die Chinesen das ganze Land mit guten Straßen überziehen. Später bekamen wir diese Baumaßnahmen dann hautnah mit: In hellblauer Arbeitskleidung und einem überdimensionierten Sonnenhut gaben die Chinesen auf der Baustelle die Anweisungen, die von den Sierra-leonischen Arbeitern umsetzt wurden. Später wurden wir wieder überrascht: die Straßen konnten nicht umsonst genutzt werden. Die fällige Straßenbenutzungsgebühr wurde an drei Mautstationen im Abstand von 20 km eingezogen – mit modernster Technik: Kameras scannten das Nummernschild und wir erhielten ein Quittung – wie überall in Sierra Leone! Und auf dieser war sogar die Mehrwertsteuer ausgewiesen! Schon vor der Landung hatte mich Sierra Leone überrascht. Diese dämlichen Einreisekarten mussten wir nicht ausfüllen. Und am Einreiseschalter wurde ein Bild von uns gemacht, Fingerabdrücke genommen und die Fragen, die wir sonst auf den Einreisekarten zu beantworten hatten, wurden direkt in den Computer eingetippt. Ich bin zwar kein Freund von Datensammlungen aber was die Technik angeht, können sich da ein paar Länder eine Scheibe von Sierra Leone abschneiden.


Die 250 km nach Bo, in die zweitgrößte Stadt des Landes, verlief komplett ereignislos. Allerdings war es herrlich, durch Palmenhaine und Grasland zu cruisen, kaum menschliche Behausungen zu passieren und auch auf wenig Verkehr zu stoßen. Das erinnerte mich alles ein wenig an die Reise von Buenos Aires nach Iguazu durch den Norden Argentiniens vor ein paar Jahren. In Asien ist es leider kaum noch möglich, durch menschenleere Gebiete ohne Dauersmog zu reisen. In Bo angekommen, ging ich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nach, dem Geld Besorgen: Dieses mal beim Libanesen im Tante Emma Laden! Die Libanesen sind in Sierra Leone und weiten Teilen Westafrikas für den Handel zuständig. Und dazu gehört auch Geld tauschen…unter der Ladentheke – und das zu einem sagenhaft guten Kurs! Geldautomaten gab es in Bo natürlich aber nicht.

Überfahrt über den Moa-Fluss
Überfahrt über den Moa-Fluss

Im besten Hotel am Platz, das uns mit Müh‘ und Not Falafel machen konnte, erkundigte sich Saidhu nach der besten Route nach Tiwai Island. Ihm wurde die Strecke empfohlen, die auch unser Navi suggerierte, während der Lonely Planet, eine andere Strecke empfahl – allerdings für Leute, die mit Bus und Motorradtaxi unterwegs waren. Tiwai Island ist, wie es der Name schon sagt, eine Insel, abgeschieden gelegen im Süd-Osten Sierra Leones, kurz vor der Grenze zu Liberia. Abhängig von der gewählten Route, kommt man also westlich oder östlich der Insel an. Dass dieser Umstand noch sehr entscheidend für die spätere Abendgestaltung werden würde, hatten wir in Bo noch nicht auf dem Schirm. Zunächst waren wir wieder positiv überrascht, dass sich auch die Straße ins 70 km entfernte Kenema in einwandfreiem Zustand befand. Doch die letzten 47 km hatten es dann in sich.


Ich zweifelte schon daran, warum in Sierra Leone eigentlich alle Organisationen mit solch monströsen Geländewagen unterwegs waren, aber die Strecke bis Mapuma belehrte mich, dass hier doch alles Sinn und Zweck hat, zumal wir in der Trockenzeit unterwegs waren. Unbefestigte Straßen sind, wenn es nicht geregnet hat, im optimalen Zustand fast so angenehm zu befahren, wie Teerstraßen. Wenn die Regenzeit aber erst wenige Wochen zurückliegt und in Sierra Leone glücklicherweise, die Regenzeit ihrem Namen noch alle Ehre macht, dann bekommt man einen Eindruck, wie die Buckelpiste nach Mapuma erst im nassen Zustand nahezu als unpassierbar daher kommt. Für diese Marathondistanz haben wir dann praktisch genauso lange gebraucht, wie die afrikanischen Dauerläufer, etwas über 2 Stunden! Im Licht der untergehenden Sonne erreichten wir Mapuma und im Dorf wusste gleich jemand Bescheid, was Tiwai Island sei – das war die Kilometer davor nicht der Fall. Saidhu wollte sich anfangs mehr oder weniger in jedem Dorf vergewissern, auf der richtigen Route unterwegs zu sein und weniger auf das Navi vertrauen. Da die Kenntnisse der Passanten aber doch recht dürftig ausfielen, verließ er sich dann doch mit zunehmender Entfernung von der Teerstraße auf das Navi, was sich tatsächlich mal im afrikanischen Busch bewährte.

Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht
Kurz vor Sonneuntergang scheint das Ziel erreicht

Ruck zuck standen zwei kräftige Männer bereit, die letzten paar Hundert Meter mit uns bis zum Fluss im Auto zurückzulegen. Unsere Rucksäcke wurden auf zwei Einbäume getragen und mit Saidhu machten wir eine Abholzeit aus, zu der er wieder in Mapuma vorbeischauen sollte – schließlich benötigten wir ihn die nächsten 3 Tage nicht und da seine Mutter in Kenema lebte, schlugen wir ihm vor, doch einfach mit dem Auto dorthin zu fahren, wenn er Lust auf Familienbesuch hätte. Wir stiegen in die Boote und ließen uns von den Jungs in den Sonnenuntergang paddeln. Dass diese Macheten dabei hatten, fiel mir erst auf, als sie unsere Rucksäcke schulterten und auf den Trampelpfad in den Dschungel einbogen. Mit Taschenlampen bewaffnet ging es über Stock und Stein an Lianen vorbei in die Dunkelheit. Ich wollte partout die Frage vermeiden, wie weit es eigentlich bis zum Visitors Centre sei, doch nach einer halben Stunde des Nachtwanderns überkamen mich dann doch erste Zweifel. Wir liefen gerade durch die finstere Nacht mitten in Westafrika, vor uns und hinter uns zwei kräftige junge Männer in Gummistiefeln mit Macheten „bewaffnet“. Plötzlich stoppten die beiden…es galt nur einen kleinen Flusslauf zu queren. Dafür wurden wir beide Huckepack genommen – damit wir keine nassen Füße bekamen.


Nach rund einer Stunde, kamen wir auf einer Lichtung an und sahen im Dunkel zwei Gebäude: die Research Station! Hier übernachteten zu anderen Zeiten mal Wissenschaftler, um die Besonderheiten von Tiwai Island zu erforschen: Zwerg-Flusspferde und insgesamt elf Primaten-Arten! Es gibt wenige Flecken auf unserer Erde, die durch so einen Artenreichtum an Affen bestechen, wie Tiwai Island. Dass wir jetzt in stockfinsterer Nacht vor den verschlossenen Gebäuden standen beunruhigte mich jetzt doch ein wenig, aber ich wusste, dass es noch ein paar Hundert Meter zum Visitors Center sind. Und irgendwann würde man sicherlich den ersten Lichtschein des Visitors Centers entdecken. Nach weiteren 15 Minuten die nächste Lichtung. „This is the Visistors Center!“ sprach einer unserer beiden Begleiter aus. „Was, hier ist doch keine Sau!“ dachte ich mir und sprach es wohl auch so aus. Diese Verzweiflung musste doch irgendwie raus. Wo sind eigentlich die ganzen Leute, die auf der Webseite so nett mir entgegen blickten und die wussten, dass wir heute hier ankommen sollten?

Überfahrt im Einbaum
Überfahrt im Einbaum

Unsere Begleiter bliesen natürlich alles andere als Trübsal und schalteten das Licht an. Eine große Schutzhütte mit Tisch und Stühlen kam zum Vorschein. Dann sprang schon einer der beiden in Richtung Büsche und knipste eine weiter Lampe an: Die Häuschen mit Klo und Dusche, schön getrennt nach Weiblein und Männlein! Im Lichtschein konnten wir nun auch weitere Gebäude erkennen und mehrere Unterstände, in denen Zelte aufgebaut waren. Einer unserer Begleiter sprintete direkt weiter. Er sollte die Leute aus dem Dorf Kambama holen, das westlich von Tiwai Island liegt. Jetzt ging mir endlich auch ein Licht auf. Hier wird tatsächlich nur das Touriprogramm hochgefahren, wenn es Touris gibt. Macht ja auch Sinn! Nur dass wir donnerstags abends in der Hauptsaison die einzigen Gäste sind, hatten wir nicht bedacht. Und dass man normalerweise in Kambama und nicht in Mapuma ankommt, wenn man hierher möchte, und dann die Einheimischen automatisch wissen, dass Gäste kommen, ist auch einleuchtend.


Wir duschten und machten es uns gemütlich, soweit das eben auf Plastikstühlen bei 30° C in den Tropen geht. Nach einer weiteren Stunde hörten wir plötzlich Stimmen und insgesamt kamen 11 Dorfbewohner an, um uns zu versorgen. Sie entschuldigten sich zunächst, dass ihnen leider niemand Bescheid gegeben hatte – die Reservierung ist wohl in Freetown hängen geblieben. Uns wurde ein Zelt zugewiesen, nachdem dieses nochmal so richtig mit Mückenschutz voll gesprüht wurde. Auf unsere Frage hin, ob wir noch etwas zu essen bekommen könnten und möglichst vegetarisch, wurde uns tatsächlich noch Spaghetti mit Tomatensoße kredenzt. Und für 7 Uhr am nächsten Tag vereinbart, einen Waldspaziergang zu machen! Was für ein Tag!

Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag
Das Visitors Center von Tiwai Island bei Tag

Nach einer sehr angenehmen Nacht mit allerlei unbekannten Naturgeräuschen, stand morgens um 7 tatsächlich unser Guide am Visitors Center. Nach einem obligatorischen Kaffee ging es auf die Pirsch, um einige der elf Primatenarten in den Baumwipfeln von Tiwai Island zu entdecken. Die Umgebung des Visitors Centers wurde mit schachbrettartigen Pfaden angelegt, die es den Besuchern möglich machten, im Dickicht des Dschungels einigermaßen voranzukommen, um bspw. die Red Colubus Gruppe im ersten Licht der Sonne zu beobachten. In Kopfhöhe beeindruckten riesige Spinnen mit ihren Netzen und der Spaziergang war die reinste Erholung. Danach gab es im Visitors Center Pfannkuchen. Für Nachmittags wurde eine Fahrt auf dem Fluss vereinbart und die meisten Dorfbewohner verließen das Visitors Center wieder, bis auf einen alten Herrn, der an der langsam abkühlenden Feuerstelle verharrte. Gegen Mittag stellten wir uns die Frage, wann es eigentlich Mittagessen gäbe. Der alte Mann konnte nur sehr wenig Englisch und es war irgendwie überhaupt nicht aus ihm herauszubekommen, ob, wann und was es gäbe. So gegen halb zwei hatten wir unser Mahl schon aufgegeben, als plötzlich Stimmen zu hören waren und unser Mittagessen in Töpfen gebracht wurde. Es gab Vollkornreis mit herrlich scharfer Gemüsesoße: veganes Sierra-leonisches Homecooking! Wir waren wieder mit der Welt versöhnt.

Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking
Leckeres veganes sierra-leonisches Homecooking

Nachmittags ging es dann den Fluss aufwärts mit dem Ruderboot. Die herrlichen Naturgeräusche wurden plötzlich von Bässen und elektronischer Musik übertrumpft. Ein Dorffest stand in Kambama an. Ob wir sie begleiten wollten, fragte uns schon der Bootsführer. Die Musik war alles andere als Getrommel, was wir im allgemeinen unter afrikanischer Musik verstanden. Die Mucke war so la la – aber uns musste sie ja auch gar nicht gefallen. Allerdings hatten wir schon ein wenig Angst vor der kommenden Nacht. Denn die Lautsprecher taten ihr Bestes, um die gesamte Gegend in ohrenbetäubender Lautstärke zu beschallen. Wir haben ja mit ziemlich viel gerechnet, aber dass uns mitten in der Pampa Westafrikas womöglich der Schlaf aufgrund von Bässen geraubt werden würde, war dann doch eine skurrile Vorstellung. Doch damit nicht genug. Nachdem uns gegen halb sieben das wieder leckere Essen kredenzt wurde, verabschiedeten sich auch die letzten Dorfbewohner inklusive des älteren Herren, der den ganzen Tag hier ausgeharrt hatte. Sie würden später nach dem Fest wieder kommen, wurde uns noch mitgeteilt und ruck zuck war es mucksmäuschenstill. Wir waren von der Situation dermaßen überrumpelt, dass wir nur kurz Bye Bye sagen konnten und das Essen zunächst genossen. Mit der Zeit fing dann bei uns doch das Kopfkino an, seinen Film abzuspulen. Wir befanden uns alleine auf einer Insel in Sierra Leone, ohne Boot, ohne Brücke sprich ohne physische Verbindung zur Außenwelt. Auch das Mobiltelefon funktionierte hier nicht, trotz Africell-SIM-Karte. Folglich kamen wir hier ohne fremde Hilfe nicht mehr weg. Doch es galt ja jetzt fürs Erste die kommende Nacht zu überstehen…

Armenien 2017

Hallo aus Mainz,

„nach 12 Jahren habe ich es endlich geschafft, wieder nach Armenien zu reisen. War es im Jahr 2005 das pure Losglück im Europapokal, das mich in die Kaukasus-Region brachte, was sich übrigens mit Aserbaidschan im letzten Jahr nochmals wiederholte, bot sich dieses Mal recht spontan die Möglichkeit, endlich mal dieses wunderschöne Land länger zu bereisen, als für die Dauer eines Fußballspiels und einer Gratis-Übernachtung, die der FSV Mainz 05 im Sommer 2005 allen Auswärtsfahrern bezahlte. Schließlich „qualifizierte“ sich Mainz „nur“ über die Fairplay-Tabelle für den europäischen Wettbewerb – daher diese große Geste des Vereins.

Wurden wir damals mit als Teilnehmer im Fanflieger mit dem Bus vom Flughafen in die Hauptstadt Erevan gekarrt, stand jetzt, wie so oft, die erste „Prüfung“ nach Verlassen der Ankunftshalle auf dem Programm: mit dem Taxi zu einem realistischen Preis in die Stadt gelangen. Dummerweise spucken Geldautomaten an Flughäfen durchweg die größten Scheine aus, die ein Land zu bieten hat. Mit lauter 20.000 Dram-Noten (ca. 34 €) „bewaffnet“ ging es ans Verhandeln. 5.000 Dram galten als realistisch und 6.000 Dram wollte der Fahrer. Ich bot lediglich 5.000 Dram an, mit dem Verweis, dass ich aber nur 20.000 Dram-Scheine habe. 5.000 Dram waren nach freundlich bestimmtem Wortgefecht ok und los ging die Fahrt, da mir „no problem“ entgegnet wurde, was die Banknoten anbetraf. Am Hotel in einer dunklen Seitenstraße am späten Samstagabend angekommen, wartete ich auf die 15.000 Dram Wecheselgeld. Aber natürlich hatte der Fahrer in seiner Tasche nur 14.000 Dram dabei – entweder war das die Wahrheit, schließlich fischte er mit einem Griff das Bündel raus oder ich wurde mal wieder von diesem Berufsstand verarscht – sei’s drum: 1,70 € „verloren“ und dafür wieder ein Stück Reiseerfahrung gewonnen. Das nächste Mal kaufe ich dann doch wieder eine überteuerte Flasche Wasser am Airport, um Kleingeld griffbereit zu haben. Und 500 Dram „Trinkgeld“ hätte ich dem hilfsbereiten, freundlichen Fahrer ohnehin gegeben…

Am folgenden Tag wurden wir von unserem Guide zu einer herrlichen Wanderung in der Umgebung von Erevan abgeholt. Durch den Basalt-Canyon Simfoniya kamnya zu Deutsch „Sinfonie des Steins“ ging es zu einer Klosterruine hoch über dem Tal. Das Schöne am Internet ist für mich die Tatsache, dass man mit ein wenig Geduld kleine lokale Unternehmen findet, die z.B. diese Tagestour organisieren. So bleibt das zu entrichtende Geld im Land, statt z.B. zu einem Großteil bei einem ausländischen Reiseveranstalter zu landen. Und viele dieser kleinen Agenturen trainieren ihre Leute auch entsprechend der versprochenen Öko-Tourismus-Regeln. Das zeigte sich beispielsweise auf dieser Tour am Rastplatz zum Mittagessen. Während wir noch die herrliche Aussicht genossen, sammelte unser Guide Müll von anderen Wanderern ein. Die halbvolle Wodkaflasche nutzten wir allerdings noch zur Desinfizierung unserer Hände vor dem Essen als „Sanitizer“. Den Müll schleppten wir dann den Berg in den Tüten unserer Lunchpakete hinunter.

Diese Lunchpakete waren bereits eine perfekte Einstimmung auf das herrliche armenisch-vegetarische Essen, das wir die nächsten Tage genießen durften (so lange dieses im Magen blieb – doch dazu später mehr). „Vegetarier“ sind in der Kaukasusregion erstens keine Unbekannten (wie bspw. In großen Teilen Argentiniens) und sie kommen auch voll auf ihre Kosten. Dieses Mal gab es Rote-Beete-Salat mit Kartoffelbrei und hochdünne Fladen mit Spinat gefüllt. Dazu „Tan“, ein Milchgetränk, das Ayran sehr ähnlich ist.

Das Thema Müll ist ein Umstand, der einem ja praktisch auf allen Reisen weltweit begegnet. In der Vergangenheit waren die Guides diesbezüglich auch recht unsensibel. Teilweise trugen sie (und damit auch ich) noch dazu bei diese zu verschmutzen, doch vor zwei Jahren auf Lombok wurde ich erstmals positiv überrascht. Die lokale Agentur trug das Wort „Green“ nicht nur im Namen. Vielmehr sind ihre Guides und Träger am Vulkan Rinjani angewiesen, tatsächlich Müll am Berg einzusammeln und diesen runterzutragen, während gleichzeitig einige Backpacker weiterhin ihren Müll einfach so in die Gegend warfen, weil das ja angeblich die Locals auch so machten. Nach der Aufräumaktion am armenischen Havuts Tar ging es zurück in die Hauptstadt Erewan, denn am nächsten Tag sollte unser Armenien-Abenteur erst so richtig beginnen…mit dem eigenen Auto.

Mietwagenreisen sind ja populärer denn je und auch in etwas ungewöhnlicheren Mietwagenregionen wie auf Mauritius oder auf Bali waren wir schon selbst mit dem Wagen unterwegs. Daher war einer der wenigen hilfreichen Tipps der neuesten Kaukasus-Ausgabe des Lonely Planets der, möglichst mit Mietwagen das Land zu erkunden. So ging es mit einem etwas höher gelegten Toyota Corolla, der schon ziemlich viele Kratzer und sogar schon einen kleines Riss in der Windschutzscheibe hatte, auf Tour. Hochgelegt, Kratzer, Riss in der Scheibe – Armeniens Straßen ließen interessante Fahrten erahnen. Dabei sind es in Ländern wie Armenien, in denen weit mehr als ein Drittel der Bevölkerung in der Hauptstadt wohnt, meist der Anfang und das Ende der Mietwagenfahrt, die größte Bewährungsproben, da oftmals der Verkehr in der Stadt am dichtesten, am chaotischsten, am rücksichtslosesten ist. Kommt dann noch ein Gewitterregen dazu, der die Straßen in reißende Bäche und die Myriaden von Schlaglöchern in eine armenische Seenplatte verwandelt, dann wisst Ihr, dass ich gerade vom Start der Reise berichte.

Ein eigentlich verlässliches Hilfsmittel, das Navi auf dem Smartphone, das mit dem Straßenwirrwarr Erevans auch sichtlich überfordert war, und immer recht plötzlich seine Meinung zum geplanten Fahrtverlauf kommunizierte, tat sein Übriges, dass ich anfangs die Mietwagen-Idee allerdings verfluchte. Der Umstand, dass wir auf einem Feldweg-ähnlichen Sträßchen schließlich die Hauptstadt nach einigen Umwegen verließen, war mir auch etwas schleierhaft, da wir wenig später dann auf eine gut geteerte Autobahn bei Ashtarak stießen. Ashtarak – bei diesem Namen werden sicherlich die 05-Fans aufhorchen, denn gegen diesen Club ging es ja bekanntlich vor 12 Jahren im Europapokal. Die Statuten der UEFA ließen es damals nicht zu, dass Mika Ashtarak zu Hause gegen Mainz antreten durfte, sondern in einem Stadion der Hauptstadt spielen musste. Herrlich auf einer Hochebene gelegen, von zwei Seiten von Schneebergen begrenzt, sah Ashtarak sehr einladend aus. Ich war wirklich hocherfreut, das Städtchen nach so langer Zeit dann doch noch zu Gesicht zu bekommen, schafften wir es damals aufgrund der Kürze des Aufenthalts nur kurz raus in die unmittelbare Umgebung von Erevan.

Wir passierten Ashtarak auf der Autobahn und stellten fest, dass armenische Verkehrspolitiker den Autofahrern mehr zutrauen, als es bei uns in Deutschland der Fall ist. Dass eine Baustelle, das Wechseln der Fahrbahn auf die Gegenseite notwendig macht, ist klar. In Armenien wird das auch praktiziert, aber es wird überhaupt nicht abgesperrt. Man holpert zwischen den Enden der Mittelleitplanke auf die Gegenfahrbahn und fährt dann sozusagen als Geisterfahrer weiter gerade aus. Das fühlte sich wirklich extrem komisch an, da natürlich Autos entgegenrauschten und auf der eigenen Fahrbahn kein Fahrzeug in Sichtweite war – zum Glück aber auch kein entgegenkommendes Auto. Ein paar hundert Meter später erblickte ich dann zu meiner Beruhigung tatsächlich ein vorausfahrendes Auto auf meiner Spur, das in die gleiche Richtung fuhr – alles gut.

Das Navi peilte für die 178 km lange Strecke nach Haghpat in Nordarmenien ca. 2h40 an. Dass dieser Wert sich nicht halten ließ, wussten wir nicht nur aufgrund der Irrwege am Anfang in Erewan, sondern auch aufgrund der ständigen Veränderungen der Straße. Sie war meist akzeptabel, aber dann so steil dass man kaum auf die möglichen 90 km/h Höchstgeschwindigkeit kam, dann war sie relativ flach, wusste aber in regelmäßigen Abständen durch Schlaglöcher zu „begeistern“, so dass ich mich nicht traute, tatsächlich mal Gas zu geben. Alles in allem kamen wir aber mit rund 60 km pro Stunde die ersten zwei Stunden doch gut voran bis nach Wanadzor. Dort verfuhren wir uns erstmal wieder, da das Navi einfach nur „nehmen sie die Autobahn“ befahl, statt mal anzusagen, ob es nach links oder rechts auf der vierspurigen Straße – von Autobahn zu sprechen wäre lachhaft gewesen – weiterging. Dann erstmal der nächste Schreck, da wir ja irgendwie zurück auf die alte Route mussten: Kreisverkehr!

Eigentlich ja kein Problem, aber in Armenien herrschen ganz offiziell andere Verkehrsregeln für Kreisverkehre: Vorfahrt hat der einfahrende Verkehr! Darauf muss man erstmal kommen, wenn die Fahrbahnmarkierung aufgrund von Schlaglöchern fehlt. Das Reinfahren war natürlich kein Problem, schließlich hatten wir ja Vorfahrt, ohne es zu wissen, aber es kam halt auch gerade kein Auto. Das änderte sich natürlich an der nächsten Einfahrt und zum Glück war es einer dieser Megakreisel mit mehreren Spuren, die natürlich nicht zu sehen waren, und das Auto links vor mir hielt doch tatsächlich an. Nachmachen ist manchmal so richtig gut – ersparte es uns womöglich einen Unfall. Der Vorteil von Kreisverkehren besteht darin, dass man so recht schnell wieder auf die alte Strecke gelangt, wenn man sich zuvor verfahren hat. Aber das vermeintliche Glück wendete sich erneut in Pech, denn wir fuhren nun in einen Stau, etwas, was es außerhalb von Erewan sonst sicherlich nie gibt, denn das Verkehrsaufkommen auf Armeniens Straßen ähnelt dem einer Kreisstraße in Rheinhessen um Mitternacht.

Wir befanden uns ziemlich am Anfang des Staus und merkten recht schnell, dass es sich um eine weitere Baustelle handelte. Auf der Gegenfahrbahn kam uns kein Auto entgegen und man sah nur Baumaschinen, die die gesamte Fahrbahn einnahmen. Ich nahm an, dass die Bauarbeiter einfach mal kurz die Straße sperrten, um die Baumaschinen zu bewegen und war recht entspannt, im Gegensatz zu einem armenischen Fahrer, der uns alle links überholte, vor der ersten Baumaschine aus dem Wagen sprang und wild gestikulierend auf die Bauarbeiter einredete. Normalerweise bringt so etwas eigentlich ja so rein gar nichts, aber nach ein paar Minuten Gebrüll, wurden die Maschinen tatsächlich zur Seite gefahren und wir konnten in die Baustelle hineinfahren. Die Straße, die schon teilweise frisch geteert war, befand sich aber an den meisten Stellen der nächsten Kilometer in einem erbärmlichen Zustand, da der alte Belag abgefräst war, es immer noch regnete und somit alles verschlammt war, und teilweise die Straße als solche gar nicht mehr zu erkennen war.

Der Verkehr dünnte sich mehr und mehr aus – es kam uns praktisch kein Auto mehr entgegen. Vor einer Tankstelle befand sich schließlich ein großes Loch – zum Glück wurde die Straße einfach zwischen den Zapfsäulen umgeleitet. Wir dachten schon, die Straße sei gesperrt… Dass dies kein Irrglaube war, stellte sich dann einige Rumpelkilometer später heraus. Das runde Schild mit dem roten Ring auf weißem Grund wurde zum Glück noch durch einen weißen Pfeil auf blauem Grund ergänzt, der auf ein kleines Sträßchen nach rechts zeigte. Wir dachten erst, das sei eine kleine Umleitung, doch die Straße machte einen Bogen nach rechts aus dem Tal heraus, dem wir seit Wanadzor folgten in Richtung eines Seitentals.

Daher wendeten wir, denn auch das Navi quäkte permanent „wenn möglich bitte wenden“. Glücklicherweise trafen wir im strömenden Regen auf einen Fußgänger und konnten mit Handzeichen fragen, welches die Route nach Alaverdi, der nächst größeren Stadt, sei. Er machte ebenfalls Handbewegungen, die erahnen ließen, dass wir leider wieder wenden und tatsächlich dem kleinen Sträßchen folgen mussten. Das Angenehme an der Straße war ihr Zustand: klein aber fein. Die vorangegangenen 20 km waren wir ja auf dieser Mega-Baustelle unterwegs gewesen und jetzt ging es plötzlich auf glatter Fahrbahn entlang, immer weiter weg von unserem Tagesziel. Denn das war das Schlechte an der Situation: erst plärrte die Stimme des Navis immer noch „wenn möglich bitte wenden“. Dann sollten wir einige Kilometer geradeaus fahren, um dann doch schließlich zu wenden und das im Dauerregen bei einsetzender Dämmerung. Wir hatten die Wahl: zurück nach Wandazsor fahren und dort die Nacht zu verbringen oder die gute, kleine Straße aus dem Seitental bergan zu fahren. Wir entschieden uns für die zweite Möglichkeit. Die angepeilte Ankunftszeit verschob sich minütlich um Viertelstunden. Plötzlich krächzte es endlich „Folgen Sie der Route für 2 km“ und man konnte erkennen, dass in der Karte des Navis tatsächlich kein Wenden mehr eingeplant war. Es ging voran in ein Bergdorf, das total ausgestorben war. Straßenschilder gab es auch nicht und wir verließen das Dorf auf einer Piste, wie ich sie in zuletzt in Costa Rica gesehen habe. Die wenigen Autos, die wir in den letzten Stunden sahen, waren auch fast alles Lada Niva Geländewagen – kein Wunder bei diesen Pisten, und ja, in Costa Rica waren wir auch mit einem Geländewagen genau deshalb unterwegs.

Wo es hinauf geht, muss es auch irgendwann wieder herunter gehen – im Schritttempo, Serpentine für Serpentine in einem Gebirgsbach alias Straße. Die Teerstücke sahen aus, als ob sie von einem Riesen einfach so herausgebrochen wurden und es bestand permanent die Gefahr mit dem höhergelegten Auto trotzdem an irgendeiner dieser Abbruckkanten aufzusetzen. In einem weiteren Seitental angekommen, stand auf einem rostigen Kontainer etwas auf Russisch mit einer Spraydose gesprüht, was eventuell „Alaverdi“ heißen konnte. Der Pfeil führte glücklicherweise, genauso wie das Navi, und mein Orientierungssinn in die gleiche Richtung nach links. Die Straße wurde nicht wirklich besser, aber das bereitete mir wesentlich weniger Sorgen, als die Steine und Felsstücke, die ab und zu so auf der Straße herumlagen. Was passiert eigentlich, wenn so ein Ding gerade herunterbricht, wenn wir unter der Felswand entlangfahren? Zum Glück musste ich mich viel zu sehr auf die Schlaglochseen, Steine und einmal auch auf einen rostigen Nagel konzentrieren, der einfach so auf der Fahrbahndecke nach oben zeigte, als mir weiter darüber Gedanken zu machen.

Irgendwann erreichten wir wieder das Haupttal und ein Lada kam uns entgegen und der Fahrer machte Zeichen, stehen zu bleiben. Während ich in Mittelamerika in so einer Situation lieber das Gaspedal bis zum Boden durchtrete, entschloss ich mich hier tatsächlich zu halten, gelten doch die Staaten des Kaukasus als sehr sicher. Überfälle auf Autos sind nahezu komplett unbekannt und man konnte unser Auto auch gar nicht als Mietwagen identifizieren. Das war dann wohl auch der Grund, warum wir angehalten wurden. Der Fahrer konnte natürlich kein Englisch, wollte wohl aber nach dem Weg zu einem mir unbekannten Ort fragen und erwähnte das international wohl wirklich einheitliche Wort „Tunnel“. Oh Gott, wenn jetzt auf der Strecke noch ein Tunnel zu passieren wäre, der vielleicht aufgrund eines Felsrutsches gesperrt war, dachte ich mir. Ich konnte dem armen Mann nicht weiterhelfen, versuchte zu gestikulieren, dass man, wenn man in einigen Kilometern links abbog über diese kleine Straße über den Berg wieder auf diese Hauptstraße gelangte. Keine Ahnung, ob ihm das weiterhalf. Wahrscheinlich war er genauso schlau wie zuvor, ich war aber tatsächlich beunruhigt, aufgrund des Worts „Tunnel“.

Im weiteren Verlauf der Straße kam uns tatsächlich kein Auto entgegen und ich machte mich schon darauf gefasst, dass hinter der nächsten Kurve tatsächlich die Straße an einem Tunnel endete. Stattdessen sahen wir irgendwann die ersten Lichter von Alaverdi und wenig später befanden wir uns auch schon auf dem kleinen Serpentinensträßchen in das Bergdorf Haghpat, in dem unser Navi, uns nochmals einen kleinen Streich spielte, in dem es irgendwie auf direktem Weg ein enges Gässchen zu unserer Unterkunft nehmen wollte. Diese befand sich zum Glück neben dem von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannten Kloster, so dass wir einfach auf der Hauptstraße blieben und dann auf einem Platz ankamen. Das Kloster war angetrahlt, der Rest des Kaffs war dunkel, inklusive unserer Unterkunft.

Es war erst halb acht Uhr abends, aber wirklich alles bis auf das Kloster stockfinster. Ich konnte aber zum Glück noch ein paar Gestalten ausmachen, stieg aus und fragte, ob es sich hier um das Haghpat Hotel handelte. „Yes“ war die erlösende Antwort. Der Begriff „Hotel“ ist ja recht schwammig. Wenn es aber nur einen Raum und fünf Zimmer gibt, die alte Dame und der zahnlose Herr, der mich an Louis de Funes erinnerte, die einzigen Mitarbeiter waren, dann würde der Name Homestay die Unterkunft schon besser beschreiben.

Weiter oben habe ich ja das Internet wegen der Möglichkeit gelobt, dass lokale Agenturen weltweit ihre Dienstleistungen anbieten können. Eine weitere Möglichkeit des Internets sind ja die beliebten Hotelbewertungen. Es soll bekanntlich Leute geben, die stundenlang Hotelbewertungen lesen oder abgeben. Früher nahm ich an, dass die Eigentümer sich teilweise ihre Bewertungen vielleicht selbst schreiben – natürlich nur die guten. Das stimmt wohl so nicht wirklich und bei unserem alten Pärchen bestimmt nicht, schließlich konnten sie kaum Englisch, geschweige denn Deutsch etc. Die Bewertungen waren eigentlich durchweg positiv und die Alten waren auch tatsächlich sehr herzlich und nett. Allerdings regnete es immer noch und es war ziemlich kalt. Das störte uns in der ersten Nacht noch nicht wirklich, aber die zwei folgenden Nächte waren einfach unangenehm und anstrengend. Die euphorischen Bewertungen das Bad betreffend konnte ich noch halbwegs nachvollziehen: es war sauber, groß und warmes Wasser gab es in der ersten Nacht auch noch. Dass die Klospülung nicht automatisch funktionierte und man immer den Wasserkasten öffnen musste, an dem Styropor-Ding herumspielen musste, damit das Wasser reinlief – geschenkt, dass man den Kasten irgendwann auch öffnen musste, damit das Wasser nicht einfach durchfloss – in vielen Teilen der Welt auch normal, also so what?! Dass aber einer schrieb, das Hotel könnte es mit einem Vier-Sterne-Ding in der Erewan aufnehmen, fand ich dann doch mit den größten Quatsch, den man in Bezug auf diese Location verfassen konnte. Spätestens dann, als es überhaupt kein Wasser mehr gab (das dann eine Stunde später wieder kam) und natürlich der Strom auch noch regelmäßig ausfiel. All das ist für mich Alltag in vielen Ländern der Welt. Aber die Kälte und die fehlende Möglichkeit, tatsächlich Abhilfe zu schaffen war einfach ätzend: Heizungen waren Fehlanzeige. Bei der mobilen Elektroheizug, die wir in der letzten Nacht erhielten, steckten wir den Stecker in die Steckdose mit dem Resultat, dass wenig später die Sicherung rausflog. Auch die Matraze, bei der man jede einzelne Feder am Morgen als temporäres Tatoo mit sich trug, war einfach schlecht. Da fragte ich mich schon, was solche Bewertungen eigentlich bringen. Klar, im Sommer braucht man keine Heizung, aber Matratzen sind ja das A und O einer Übernachtung. Schließlich verbringt man darauf ja dann doch oft ein Drittel seiner Reise. Wir hätten vielleicht mangels Alternative trotzdem in diesem Hotel übernachtet, aber dass dieses so enthusiastisch in den komplett wolkenverhangenen Himmel von Haghpat gelobt hat, zeigt mir dann doch, dass Bewertungen im Internet einfach mit Vorsicht zu genießen sind.

Ebenfalls gut bewertet wurden unsere Führer von Alaverdiguides. 25 zum Teil sehr gut englisch sprechende junge Armenierinnen und Armenier möchten Reisenden ihre Region zu Fuß vorstellen. Dazu bieten sie Halb- und Ganztageswanderungen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade an. Obwohl das Wetter nicht so recht mitspielte war der Aufenthalt dank der Guides in Haghpat wirklich wunderbar. Auf alten Fußwegen ging es vom Kloster Sanahin zurück zu unserem Kloster in Haghpat. Theoretisch wären wir noch in ein weiteres Bergdorf gelaufen – aber es regnete dann doch zu stark und im Nachhinein bin ich froh, diese Tour abgebrochen zu haben, denn in der Nacht taten sich Magen und Darm zusammen, um mich auf Trab zu halten, indem ich des mehrmals den Wasserkasten herumschieben musste. Komplett platt stellte sich für mich am nächsten Morgen die Frage, Bett oder Basilika? Schließlich wollten wir von einer alten Basilika unterhalb einer Felskante mit unserem Guide durch einen Canyon wandern. Ich entschied mich darauf zu vertrauen, dass die drei Marmeladebrote im Magen blieben und mir genug Kraft gaben, den Walk durchzuhalten. Dies gelang schließlich mit Ach und Krach. Es war schon interessant zu sehen, wie der Körper innerhalb einer Nacht komplett abbauen und für mich eine relativ einfache 9 km Wanderung zur absoluten Herausforderung werden kann. Am Ende der Wanderung wurden wir von einer alten Frau angesprochen. Daviet, unser Guide, kannte sie nicht, konnte uns aber übersetzen, dass sie uns auf einen armenischen Kaffee einladen wollte. Das war bereits die zweite Kaffeeeinladung, nachdem wir beim Müllsammelsonntag schon diesen herrlich starken Kaffee, bei dem der Satz in der Tasse verbleibt, gratis genießen durften. Auf der heutigen Wanderung bekamen wir von einem Schafhirten Walnüsse geschenkt und die alte Dame toppte alles, denn natürlich blieb es nicht beim Kaffee. Baklava-Gebäck und eingelegte grüne Walnüsse wurden zum Nachmittagskaffee gereicht. Die Gastfreundschaft der armenischen Bevölkerung war tatsächlich umwerfend und natürlich hätten wir für den Kaffee auch etwas bezahlt, das wäre allerdings als unhöflich angesehen worden.

Am nächsten Tag spielten sowohl das Wetter als auch der Magen und der Darm wieder mit, so dass es mit dem Auto wieder auf Abenteuer durch Armenien gehen konnte. Bis Wanadzor sollte es eigentlich die gleiche Strecke zurückgehen, aber natürlich informierten wir uns vorher und erfuhren so, dass die Straße eigentlich für zwei Jahre (!) gesperrt sei, da u.a. der Tunnel (aha!) erneuert wurde und eine großräumige Umleitung eingerichtet sei. Das war auch in der jetzt zu nehmenden Fahrtrichtung tatsächlich entsprechend mit einem Schild angegeben. Leider fehlte dieses auf der Hinfahrt. So aber verlief die Weiterfahrt nach Dilijan komplett ereignislos. Statt der avisierten 2 Stunden, fuhren wir zweieinhalb Stunden aber das ist ja kein Vergleich zu den sechs Stunden, die wir von Erevan statt der zweidreiviertel Stunden brauchten. Bevor wir losfuhren, bekamen wir von der alten Dame unseres Homestays noch Socken zum Abschied geschenkt – weil wir so viel gefroren haben. Versteht mich bitte nicht falsch: Ich mochte den Aufenthalt trotzdem, das Menschliche in dieser Herberge wurde wirklich groß geschrieben. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass die beiden alten Menschen so zunehmend ihre Schwierigkeiten hatten, das Hotel so zu leiten, dass es nicht verkommt. Auch wenn sie nur fünf Zimmer hatten – Madame hat abends für alle gekocht, morgens Frühstück gemacht und natürlich müssen die Zimmer in Stand gehalten werden. Mich haben halt nur die extrem positiven Bewertungen gewundert. Natürlich bat die Dame auch eindringlich darum, dass wir ihr Hotel positiv bewerten. Und diesem Wunsch sind wahrscheinlich die meisten Gäste nachgekommen – sicherlich auch ein bisschen aus Dankbarkeit.

In Dilijan angekommen, wurden wir von unserem nächsten Hoteleigentümer mit einer mächtigen Alkohohlfahne begrüßt. Dass er darauf bestand, sofort bei der Ankunft zu zahlen, wir aber nicht genug Cash dabei hatten und somit mit der Kreditkarte versuchten zu zahlen, ließen den ersten Eindruck etwas ins Negative abgleiten. Es blieb beim Versuch mit der Karte zu zahlen, denn erstens wollte er nur die Hälfte mit der Karte haben, dann war er so ungeduldig, da das Lesegerät „Please Wait“ anzeigte, er aber statt zu warten, dieses auf den Tisch schlug und dieses in alle Einzelteile zersprang. Es quälte aber noch einen Beleg raus auf dem „Approved“ stand. Er behauptete aber felsenfest, dass der Betrag nicht abgebucht wurde. Zum Glück ging es nicht um große Beträge (ca. 34 €), aber genervt war ich trotzdem. Und natürlich wurde mir der Betrag abgebucht. Aktuell versucht das Hotel mir den Betrag wieder zurückzutransferieren – Ausgang offen…und die Bank möchte den Betrag auch nicht erstatten, obwohl ich den Beleg nicht unterschrieben habe…

Wir fuhren zum nächsten Geldautomaten holten das Geld und konnten dann im Casanova Inn, erstmal entspannen. Jede Tür ziehrte eine venezianische Karnevalsmaske und der große Aufenthaltsraum war beheizt – juhu! Auftauen, aufwärmen und sich von der Kälte Haghpats erholen. Anders als viele Städte Armeniens, die aus hässlichen grauen heruntergekommenen Plattenbauten bestehen, gab es in Dilijan vereinzelt sehr hübsche Häuser. Der Ort war schon in der Sowjetunion als Touristen-Ziel und Kurort bekannt, vielleicht wurde daher ein bisschen mehr auf eine ansprechende Bausubstanz geachtet. Kulinarisch war Dilijan auch wieder ein Paradies, sogar für Vegetarier. Überall im Kaukasus erhalten diese Salate, viel Gemüse, Kartoffeln und leckeres frisches Brot. Sogar Urgetreide wie Emmer findet den Weg auf die Speisekarte. Während wir in Haghpat mangels Alternative drei Nächte Homecooking erlebten, was leider für Vegetarier etwas öde, aber wenigstens satt machend war, gibt es in Dilijan tatsächlich eine große Restaurantszene. Noch schöner war allerdings die umgebende Natur mit ihren Blumenwiesen, Nadelwäldern, Schneebergen und was in Armenien natürlich nicht fehlen darf: Klöstern.

Zurück in die Hauptstadt Erevan führte die Reise am tiefblauen Sevan-See auf ca. 2.000 Metern entlang. Hinter einer Biegung der Autobahn ragte dann plötzlich der Berg Ararat der über 5.000 Meter hoch ist, hinter der Millionenmetropole Erewan hervor. Ein erhebender Anblick und ein wunderbarer Abschluss dieser Reise durch ein faszinierendes Land mit herrlicher Natur, imposanten Klöstern und sehr sehr freundlichen Bewohnern. Ich hoffe nicht, dass es wieder zwölf Jahre dauert, um diesem wunderbaren Land, den nächsten Besuch abzustatten.