„Heldentickets“ und „Risikospiele“ anno 2005

Kannst Du Dich noch daran erinnern, was Du vor 15 Jahren und ein paar Wochen an zahlreichen Donnerstagmorgen gemacht hast?

Da ich im Jahr zuvor eine einjährige Weltreise unternahm, besaß ich für die Saison 2003/04 keine Mainz 05-Dauerkarte und musste damit in der ersten Erstligasaison als Vereinsmitglied für jedes Spiel der rot-weißen Jungs um Karten kämpfen. Schließlich war ich nicht der einzige, der Bock hatte, womöglich diese eine Saison im Fußball-Oberhaus im Stadion mitzubekommen.

Das Stadium am Bruchweg war bis 2011 die Heimat der Profi-Mannschaft von Mainz 05

Das Spiel in Stuttgart habe ich noch im Haasekessel angeschaut, schließlich gab es für das erste Bundesligaspiel des 1. FSV Mainz 05 für mich Normalo keine Karte mehr. Dafür ergatterte ich aber Tickets für die Auswärtsspiele in Berlin und Freiburg – denn für die Heimspiele gegen den HSV und Leverkusen, hatte ich es ebenfalls nicht hinbekommen, Karten zu erstehen. Ich richtete mich schon darauf ein, dass ich einfach die meisten Auswärtsspiele der Saison besuchen und die Heimspiele in der Kneipe gucken werde. Spätestens nach Rosis Siegtor in der Nachspielzeit im Dreisamstadion hatte ich aber so richtig Blut geleckt und wollte auch Karten für die Heimspiele ergattern. Daher stimmte ich im Zwei-Wochen-Rhythmus donnerstagsmorgens meinen Alltag so ab, dass ich irgendwo auf dem Weg zur Arbeit einen Computer mit Internetanschluss auftreiben konnte, z.B. in einer Spielhölle am Frankfurter Hauptbahnhof. Zwischen zwielichtigen Gestalten des Bahnhofsviertels drückte ich dann auf der Tastatur so lange auf „F5“ den Refresh-Button, bis ich im Ticketshop die begehrte Karte für den P-Block nicht nur virtuell in den Warenkorb legen, sondern tatsächlich auch den Bezahlvorgang abschließen konnte. Schließlich brach die Mainz05.de-Seite regelmäßig beim Kartenvorverkauf fast zusammen.

Andrang vor den Tickethäuschen herrscht vorallem in der ersten Erstliga-Saison 2004/05

Aber ich ahnte schon im Herbst 2004, dass es bei den „Risikospielen“ nicht mehr so „einfach“ werden würde, an Karten zu gelangen. Die „Risikospiele“ waren damals die gegen Lautern und die Bayern am 32. und 33. Spieltag. Nicht, dass es ein Risiko gewesen wäre, auf die Spiele selbst zu gehen. Das große Risiko bestand darin, gar nicht erst an Karten zu gelangen. Daher konnte ich mich nicht auf die „F5-Strategie“ verlassen, sondern musste „größere Geschütze“ auffahren, in dem ich mich mit Schlafsack und Isomatte sowie Urlaubstagen „ausrüstete“.

Auf diese Idee bin ich natürlich nicht alleine gekommen. Abends gegen neun, halbzehn lagerten an einem Mittwochabend im Vorfrühling 2005 plötzlich Dutzende von Menschen mit Campingequipment ausgerüstet vor den Kassenhäuschen des Stadions am Bruchweg herum. Gute Verpflegung durfte auch nicht fehlen und irgendjemand vom Verein sperrte schließlich die Toilettenhäuschen auf. Wenn man zehn Stunden mit anderen Menschen an einem Fleck freiwillig in der Kälte verharrt und eine große Leidenschaft teilt, dann ist die Chance natürlich gegeben, dass sich wunderbare Gespräche ergeben und Bekanntschaften entwickeln. Man fiebert gemeinsam auf 8 Uhr am nächsten Morgen hin, wohlwissend, dass man mit seinem Einsatz der Übernachtungsstrategie die Karten schon recht sicher hatte. Man konnte mit einem wohligen Gefühl im Kopf und Oropax in den Ohren unter den Bäumen vor dem Stadion unbekümmert einschlummern – schließlich waren genug Gleichgesinnte da, die auf die Schlafenden ein Auge hatten.

Die Toilettenhäuschen wurden in der Nacht vor dem Vorverkauf teilweise geöffnet.

Dass die beiden „Risikospiele“ am Ende für uns relativ bedeutungslos geworden sind, da wir am 30. April 2005 die beste aller Hexennächte im Ruhrstadion verbracht und den Klassenerhalt eingetütet hatten, konnte donnerstags morgens um kurz nach acht Uhr morgens ein paar Wochen vorher noch niemand ahnen. Diese „Heldentickets“ in der Hand zu halten und zuvor eine einzigartig gute Nacht am Bruchweg verbracht zu haben – dieses Gefühl kann uns keiner mehr nehmen und ich werde mich ein Leben lang an dieses kleine Abenteuer vor unserem Wohnzimmer mit einem guten Gefühl erinnern. Karten für ein Fußballspiel zu ergattern – das hat schon was!

Mainz blickt durch

Das Schöne an einer offenen, kreativen, solidarischen Gesellschaft ist die Vielfalt an Aktionen, die, wenn es darauf wirklich ankommt, gebildet wird – z.B. in der aktuellen Ausnahmesituation. Gleichzeitig verliere zumindest ich langsam den Überblick, wer, was, wie macht, um andere zu unterstützen. Daher habe ich mal drei Schwerpunkte gebildet:

  1. Helfer*innen
  2. Lokale Unternehmer*innen
  3. Tiere unserer Stadt

Ich versuche die Vielzahl der Initiativen auf dieser Seite zusammenzufassen. Diese Liste ist dynamisch und kann durch Hilfe Eures Feedbacks jederzeit aktualisiert werden. Beim Punkt 1 und 3 nehme ich gerne Einzelinitiativen auf. Bei Punkt 2 sollte die Initiative allerdings mehrere Unternehmen betreffen,, schließlich soll ja der Gedanke unterstützt werden, anderen in dieser misslichen Lage zu helfen.  

Update vom 20. April 2020:

„Mainz liefert“ in weitere PLZ-Bereiche aus (siehe Punkt 2).

Update vom 18. April 2020:

Die „Heile heile Gänsje, es is bald widder gut!“ Aktion der Supporters Mainz, des Q-Block und anderer Fanclus des 1. FSV Mainz 05 (siehe Punkt 2).

Update vom 15. April 2020:

Der Gutenbuchclub hat eine „Dealerliste“ erstellt (siehe Punkt 2).

Update vom 11. April 2020:

Lieferangebote der Mainzer Gastronomie – zusammengestellt von der Stadt Mainz (siehe Punkt 2)

Update vom 9. April 2020:

„Kochen für Helden Mainz“-Initiative (siehe Punkt 1)

Update vom 8. April 2020:

TakeCare-Gutscheine von Wohnsitzlos in Mainz e.V. (siehe Punkt 2)

Startseite von heldentickets.de

Helfer*innen

Mainz 05 hat die „Heldenticket“ Initiative ins Leben gerufen. Da nicht abzusehen ist, wann der Fußball wieder mit Zuschauern im Stadion startet, bietet der Verein die Möglichkeit, „Helden des Alltags“ bereits bezahlte Eintrittskarten für ein zukünftiges Heimspiel von Mainz 05 zur Verfügung zu stellen. Auch virtuelle Heldentickets genauso wie Gutscheine für Speisen und Getränke können erworben werden. Darüber hinaus bietet die Initiative die Möglichkeit, als eigener Verein ebenfalls mit von der Partie zu sein. Mehr Infos auf heldentickets.de.

Köch*innen aus der Mainzer Gastronomie-Szene krempeln unter dem Motto „Kochen für Helden Mainz jetzt die Ärmel hoch. Sie kochen Essen für die, die den Laden in Zeiten der Krise zusammenhalten. #kochenfürhelden​mainz​ ist​ nach eigener Aussage „Teil​ eine​r ​Graswurzelbewegung von Gastronomen mit Unterstützung vieler in Zeiten der Corona-Krise. Die wohltätige Aktion versorgt alle Menschen in den Funktionsberufen mit Mahlzeiten, die dafür sorgen, dass unser Leben unter den derzeitigen Umständen weiterläuft.“ Die Initiative ist sowohl offen für Leute, die spenden möchten als auch für Zuliefer*innen als auch für Mitmacher*innen. Essen für Held*innen kann auf der Seite ebenfalls angefragt werden. 

Lokale Unternehmer*innen

Gleich mehrere Initiativen bieten gegenwärtig die Möglichkeit, Produkte zu Dir direkt nach Hause liefern oder Gutscheine für eine spätere Einlösung ausstellen zu lassen. Zwar rückt das Thema Nachhaltigkeit aktuell in den Hintergrund, aber die Probleme, die es vor Corona gab, sind natürlich vom lauen Frühlingslüftchen einfach weggeblasen worden. Daher sollte das Thema Nachhaltigkeit auch eine Rolle spielen, wenn es um die Unterstützung lokaler Player geht. Im besten Fall werden jetzt in der Krise Änderungen vorgenommen, die nach der Krise beibehalten werden. Das gilt insbesondere für die riesige Menge an Verpackungsmüll, der gegenwärtig entsteht.

Startseite von „Mainz Help“.

Daher ist MainzHelp natürlich ganz vorne dabei, da Du auf dieser Seite Deine Lielingslocation jetzt finanziell unterstützen kannst. Im Gegenzug erhältst Du einen Gutschein, den Du einlösen kannst, sobald die Location wieder geöffnet hat. Dadurch hilfst Du dem Unternehmen liquide zu bleiben. Die Initiative ist eine private Selbsthilfeseite der teilnehmenden Gastronomie-Betriebe in Mainz. Dein Betrag geht komplett an das ausgewählte Unternehmen. Ein gewisses Restrisiko bleibt natürlich an Dir hängen, wenn trotz aller Unterstützung Deine Location den Betrieb aufgeben muss.

„Mainz gebracht“ kombiniert Nachhaltigkeit und Risikoscheu optimal – zumindest, wenn Du in der Innenstadt wohnst. Schließlich beliefert Euch diese Initiative der Werbegemeinschaft Mainz e.V. und des Mainzer Citymanagements in der Innenstadt mit dem Fahrrad. Aber auch alle Mainzer Stadtteile werden von „Mainz gebracht“ angesteuert, so dass niemand innerhalb des Stadtgebiets auf dieses Gratis-Angebot verzichten muss. Auf der Facebook-Seite von „Mainz gebracht“ kann die ständig aktualisierte Liste der Partner eingesehen werden. Ihr bestellt beim Partner Eurer Wahl online oder per Telefon und gebt an, dass Ihr das Gratis-Angebot von „Mainz gebracht“ nutzen möchtet. Im Alten Postlager wird Deine Lieferung zusammengestellt und von ehrenamtlichen Helfer*innen zu Dir nach Hause gebracht. Trinkgeld könnt Ihr den Helfer*innen kontaktlos via PayPal an mail@mainzgebracht.com zukommen lassen.

Startseite von „Mainz Gebracht“.

Bei „Mainz liefert“ handelt es sich um einen Zusammenschluss von aktuell 12 Restaurants in Mainz. Täglich von 17 bis 21 Uhr könnt Ihr über „Mainz liefert“ leckere Speisen und Getränke Eures Lieblingsrestaurants online bestellen und bezahlen. Trinkgeld könnt Ihr direkt bei der Bestellung hinzufügen. Es werden nun alle PLZ-Bereiche von Mainz beliefert. Pro Bestellung fallen 3 € Liefergebühr an (5 € bei 55126, 55127 und 55130).

Auf LiebeDeineStadt.net bietet Luups einen Same-Day-Delivery bei Bestellungen bis 17 Uhr von Montag bis Samstag an. Luups bietet viele schöne Dinge von lokalen Mainzer Unternehmen an. Ein Besuch des Online-Shops lohnt sich bestimmt für viele von uns. Interessanterweise ist Luups wiederum auch Teil von Heimatschatz, ein Service der VRM-Gruppe, zu der u. a. die AZ gehört, und der Werbegemeinschaft Mainz. Im Gegensatz zu „MainzHelp“, „Mainz Gebracht“ und „Mainz Liefert“ möchte Heimatschatz auch nach der Krise weiterhin diese Online-Plattform betreiben, um Händlern dauernhaft die Möglichkeit des Online-Verkaufs zu bieten.

*Neu* Eine doppelte Hilfe stellen die TakeCare-Gutscheine von Wohnsitzlos in Mainz e.V. dar. Menschen ohne festen Wohnsitz wurden bisher durch Essensausgaben unterstützt. Diese Einrichtungen sind aktuell geschlossen oder dürfen nur unter Auflagen ihre Hilfe anbieten. Gleichzeitig leiden auch kleine Pizzerien, Asia-Imbisse und Döner-Läden unter der aktuellen Situation. Durch eine Spende mittels Banküberweisung werden diese Beträge in Gutscheine für obdachlose Mitbürger*innen umgewandelt und ausgegeben. Damit wird diesen Menschen genauso geholfen, wie den Betreiber*innen der kleinen Gastrobetriebe.

Die Stadt Mainz bietet auf ihrer Webseite nach Branchen sortiert einen Überblick, welches Unternehmen online oder per Telefon Bestellungen entgegennimmt. Mittlerweile hat sie auch eine Übersicht über die Lieferangebote der Mainzer Gastronomie erstellt. Ferner hat der Gutenbuchclub hat eine „Dealerliste“ erstellt, auf der sich alle inhabergeführten Mainzer Buchhandlungen befinden, bei denen bestellt werden kann.

Darüber hinaus lohnt sich immer ein Blick auf die Webseite Deines lokalen Lieblingsunternehmens, das aktuell darüber informiert, ob, wann und wie bestellt, abgeholt oder geliefert werden kann.

Die Supporters Mainz e.V. der Q-Block und weitere Fanclubs des 1. FSV Mainz 05 haben mit „Heile heile Gänsje, es is bald widder gut!“ eine Aktion ins Leben gerufen, mit der in der ersten Bestellphase 100 % der Erlöse an drei Institutionen gehen, die aktuell jede Hilfe benötigen können: Der Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.“, „Kochen für Helden Mainz“ (siehe Punkt 1) und „Ärzte ohne Grenzen“. Es gibt T-Shirts, Aufkleber und Taschen zu erstehen, auf denen der Ausspruch „Heile heile Gänsje, es is bald widder gut!“, der Zuversicht zum Ausdruck bringen soll, gemeinsam mit einer weißen Gans im roten Schal abgedruckt ist.

Startseite von „Mainz liefert“.

Tiere unserer Stadt

In der aktuellen Situation haben auch Lebewesen zu leiden, die keine große Lobby haben. Auch wenn Dir beispielsweise Tauben vollkommen egal sind, bitte ich zu bedenken, dass es sich um Lebewesen handelt, die Nachfahren ausgewilderter Haustiere wie Brief- oder Zuchttauben sind. Die Tiere unserer Stadt kannst Du online mit einer Geld- oder Sachspende unterstützen. Letzteres ist auf Amazon über den Wunschzettel der jeweiligen Organisation möglich. Dort suchst Du Dir das Produkt Deiner Wahl aus, das Du spenden möchtest. Aktuell gibt es zwei Wunschlisten von Tierschutzorganisationen aus Mainz:

Kennst Du schon Amazon Smile? Amazon reicht an angemeldete Organisationen 0,5% der Einkaufssumme Eurer so genannten „qualifizierten“ Käufe weiter. Ihr könnt beispielsweise „Tierheim Mainz“ in der Suchmaske eingeben. Natürlich gibt es noch viele andere unterstützenswerte Organisation auf Amazon Smile zu entdecken.

Personalisierte Startseite von AmazonSmile

Gerne erweitere ich diese Liste und hoffe, dass kein Local Player zurückbleibt und wir bald wieder geMAINZam gesellig das Leben in unserer Stadt genießen dürfen.

Brauchen wir es noch?

Die vergangenen Tage haben unseren Alltag ziemlich durcheinandergewirbelt. Unsere Gewohnheiten und unser Konsumverhalten haben sich teilweise drastisch verändert. Manche Zukunftsforscher*innen gewinnen der aktuellen Situation durchaus positive Facetten ab und sind der Auffassung, dass die Mehrheit der Menschen in Zukunft beispielsweise nicht mehr so viel Flugverkehr braucht und durch Homeoffice nicht mehr so viel gependelt werden muss. Vielmehr sind ab sofort Kreativität und Solidarität gefragt. Und natürlich Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die in so genannten systemrelevanten (Mini-)Jobs arbeiten, und die in Zukunft mehr Geld verdienen sollten.

Den Hut ziehen wir aktuell vor allen, die versuchen, diese Krise zu bewältigen.

Geld ist wirklich ein gutes Stichwort. Denn dieses ist der Punkt, um den es beim höherklassigen Fußball bisher einzig und alleine geht. Das wissen wir eigentlich schon lange, aber der DFL-Chef hat es vor ein paar Tagen zum ersten Mal tatsächlich direkt auf den Punkt gebracht und vom „Produkt Fußball“ gesprochen. Die DFL stellte bis zum 11. März 2020 in ihren 36 Produktionsstätten, früher einmal Stadien genannt, ein Produkt her. Seither ist die Produktion eingestellt, da zu ihr Menschen nötig sind und bei der #PhysicalDistancing unmöglich ist. Oberstes Ziel der Gesellschaft ist allerdings gerade das Einhalten jener physischen Distanz zwischen den Menschen – und das mindestens noch bis zum 19. April 2020. Daher scheint es zunächst einmal stringent, dass die DFL am Dienstag den Produktionsstopp bis zum 30. April 2020 verkündet hat.

Während allgemein angenommen wird, dass bundesweit im besten Fall ab dem 20. April 2020 die aktuellen Beschränkungen gelockert werden, plant die DFL auf ihrer Produktionsfläche, früher auch unter dem Begriff „Spielfeld“ bekannt, den Betrieb mit einem Schlag wieder auf Vor-Corona-Niveau hochzufahren – laut „Kicker“ möglichst ab Mai 2020. Das virtuelle Meeting der Verantwortlichen am Dienstag mit den 36 Produktionsbetrieben, früher einmal „Vereine“ genannt, hat eines gezeigt: (TV-)Geld ist alles. Das Produkt Fußball ist so abhängig vom Geld der Fernsehsender wie Influencer*innen von Klicks und Likes. Ich ziehe bewusst keine anderen Vergleiche, denn Menschen, die von irgendwelchen Substanzen abhängig sind, sind krank und benötigen eine Therapie, sprich Hilfe.

Den Verantwortlichen rund um das Produkt Fußball ist gegenwärtig noch nicht zu helfen. Dafür müsste zunächst eine gewisse Einsicht einkehren, dass in den letzten Jahren etwas grundsätzlich schief gelaufen ist. Seit Jahren bewegen sie sich in einer Blase. Diese Blase hat sie ein wenig taub gemacht für die Entwicklungen außerhalb ihres geschützten Kosmos. Das hat sich erst vor ein paar Wochen gezeigt, als es um Plakate ging. Ein Blasenmitglied wurde in seiner Produktionsstätte verbal derb beleidigt. Innerhalb der Blase wurde sich mit dem Mitglied solidarisiert. Solidaritätsbekundungen mit Mitgliedern außerhalb der Blase, die in der Vergangenheit in ebenfalls in Produktionsstätten beleidigt wurden? Fehlanzeige!

Ein Bild wie aus einer anderen Zeit

Während das ganze Land schon darüber diskutierte, wie das Virus einzudämmen sei, und Fachleute bereits dazu rieten, auf Distanz zu gehen und Menschenansammlungen zu meiden, sollte unbedingt noch ein Spieltag durchgeführt werden – ohne Zuschauer! Wie stand es um den Schutz der Gesundheit derer, die in der Produktionsstätte das Produkt hätten produzieren sollen, sprich die Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Kameraleute und die vielen anderen Menschen, die dafür notwendig sind, ein Fußballspiel durchzuführen? Wenn man einen Entzug fürchtet, ist die eigene Gesundheit scheinbar sekundär. Hier wäre es aber noch nicht einmal um die eigene Gesundheit der für die Produktion Verantwortlichen gegangen. Sondern um die Gesundheit von Mitarbeiter*innen, die den oben genannten Personengruppen zuzuordnen sind. Es existieren Fürsorgepflichten seitens der Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter und diese wären schlimmstenfalls verletzt worden. Zum Glück setzte sich der gesunde Menschenverstand dann in letzter Sekunde doch noch in der Blase durch – immerhin.

Jede*r Unternehmer*in weiß jedoch, dass es gefährlich ist, sich von einem Kunden oder Produzenten abhängig zu machen. Im Falle des Produkts Fußball sind es die Fernsehsender, deren Journalist*innen teilweise ebenfalls Mitglieder dieser Blase sind. Dies wurde offensichtlich, als es um die oben genannte Beleidigung ging und sich auch einige TV-Journalist*innen bei ihrem Blasenmitglied anbiederten, statt zu recherchieren und mit der nötigen Distanz über diesen Vorfall zu berichten. Es wurden in der Vergangenheit immer neue Rekordverträge für die TV-Vermarktung generiert. Dafür gab es neben den unsäglichen Montagsspielen in der 2. Liga plötzlich auch Spiele am Montag in Liga 1 (und 3), damit immer mehr Partien, die einzeln zu vermarkten waren – für die dafür zahlenden Fernsehzuschauer*innen.

Gewinnmaximierung ist nicht nur die Leitlinie im Fußball, sondern auch in der Formal 1. Um auch in der aktuellen Situation weiter ungestört produzieren zu können, wurde bei einem Rennstall, der zufälligerweise auch ein Konstrukt in der Bundesliga hochgezüchtet hat, vom Motorsportberater die Idee erörtert, die Fahrer absichtlich mit dem Virus zu infizieren, damit diese sich schneller immunisieren. Dass auch junge Menschen an Covid-19 sterben, hat bei der Entwicklung dieser Idee wohl keine Rolle gespielt, zumal der Berater am 10. März mit folgenden Sätzen zitiert wurde: „Es handelt sich um eine Influenza. Es sterben Großteils Menschen im hohen Alter mit einer Vorerkrankung.“ Und weiter: „Die Quarantäne ist das Problem“, man müsse „der Panikmache mancher Politiker entgegenwirken und darf sie nicht noch unterstützen.“ Zum Glück wurde die Idee verworfen. Sie zeigt aber, dass sich der Profisport einfach für zu wichtig hält. Die breite Mehrheit der Fernsehzuschauer*innen, schaut Fußball oder Formel 1 noch freiwillig und nicht aus beruflichen Gründen. Es ist eine Freizeitbeschäftigung. Die große Mehrheit der Bevölkerung gehört nicht zu den 56 000 Beschäftigten, die mit dem Produkt Fußball ihren Lebensunterhalt verdienen. Fußball im Speziellen und Profisport im Allgemeinen ist nicht systemrelevant. Das gilt jetzt besonders, aber auch in „normalen“ Zeiten stimmt diese Aussage. Das haben die Verantwortlichen in anderen Sportarten wie dem Eishockey bemerkt und ihre Saison einfach abgebrochen – in einer Sportart, die mit wesentlich weniger Geld wirtschaften muss, als es im Fußballbusiness der Fall ist. Und selbst die Verantwortlichen in Wimbledon haben das diesjährige Tournier am Mittwoch abgesagt – obwohl sich Tennis mit 1,50 Abstand relativ gut spielen lässt – im Gegensatz zum Fußball.

Die Sehnsucht nach Spielen im Stadion ist natürlich jetzt schon riesig.

Und was macht die DFL? Sie richtet eine „Task Force Sportmedizin / Sonderspielbetrieb“ ein, die ein Vorgehen erarbeitet „mit dem eine engmaschige, unabhängige Testung von Spielern und weiterem Personal unter anderem unmittelbar vor den Spieltagen durchgeführt werden kann“. Stand heute sind Corona-Tests nicht so einfach zu haben, wie eine Dose Brauselimo aus Fuschl am See. Mit welcher rechtlichen Begründung möchte die DFL hunderte von Tests für sich proklamieren? Und das womöglich vor jedem Spieltag?

Gegenwärtig entstehen abseits der Fußballproduktion täglich neue Lösungsansätze. Angeblich brauchen wir ja in Zukunft kaum noch Flugzeuge. Dass im Bauch der Passagiermaschinen ganz viel Luftfracht mitfliegt, um in guten Zeiten beispielsweise Blumen aus Kolumbien, Wein aus Südafrika und argentinische Steaks nach Deutschland zu transportieren, wissen wahrscheinlich nicht so viele Leute. Dass aber aktuell diese Passagiermaschinen komplett mit dringend benötigter Luftfracht befüllt werden, also Gepäckfächer und Passagiersitze beispielsweise mit Millionen von Atemschutzmasken aus China beladen werden, zeigt, dass die Airlines umschichten, sicherlich zu ihrem eigenen Überleben, aber auch, um die nun mal bestehenden Lieferketten am Leben zu erhalten, um Leben zu erhalten. Und das Produkt Fußball? Wie ist es dort um die Kreativität bestellt?

Die einfachste Lösung, die Saison abzubrechen, würde natürlich viele Produktionsbetriebe in der Tabelle benachteiligen. Aber wieso nicht einfach, nur Aufsteiger „produzieren“ – keine Absteiger? Oder die Liga einfach so lange aussetzen, bis wieder normal produziert werden kann? Und dann ggf. halt eine Saison durchzuführen, die zwei Jahre dauert – und gleichzeitig Lösungen mit TV-Sendern suchen. Sprich die Verträge entsprechend länger laufen zu lassen – ja, auch mit den ungeliebten Montagsspielen. Oder Gutschein-Lösungen entwickeln, um den finanziellen Mittelabfluss zu verhindern? Sprich, die Saison würde abgebrochen, und die Fernsehgelder fließen trotzdem. Dafür würden die Verträge mit den TV-Anstalten einfach zeitlich nach hinten verlängert und die Fernsehzuschauer würden ebenfalls eine Abo-Verlängerung erhalten. Und/oder es würde gleichzeitig mit allen Spielern ein Modell der Kurzarbeit entwickelt, damit diese einerseits nicht finanziell ins Bodenlose fallen, aber, wie Millionen anderer Menschen auch, für Monate finanzielle Abstriche machen müssten. Es wird von der DFL so getan, als sei alles in Stein gemeißelt. 750 Millionen Euro Schaden würden entstehen, wenn nicht zu Ende gespielt wird. Das sind doch „Peanuts“, wenn man an die Ablösesummen der letzten Jahre denkt. Aber das Produkt Fußball hält sich nunmal für systemrelevant und unverzichtbar. Und das gegenwärtige Vertragskonstrukt für alternativlos. Die Medienrechte-Ausschreibung wird ja tatsächlich verschoben. Das hätte ein erstes Indiz dafür sein können, dass entsprechend gedacht wird. „Anstelle des ursprünglich geplanten Termins im Mai ist eine Vergabe ab Juni dieses Jahres vorgesehen.“ Zitat DFL – es ist aktuell dann doch noch keine Einsicht vorhanden, leider.

Fußball ohne Fans macht eigentlich „Koan Sinn“.

Von den bereits angesprochenen gesundheitlichen Aspekten abgesehen, wird als einzige Lösung die Durchführung von Geisterspielen präsentiert. Stadionverbot für alle sozusagen. Das ist natürlich auch eine Art gelebter Solidarität. Und eine nie dagewesene Ehrlichkeit. Wenn im Mai Menschen weiterhin #PhysicalDistancing betreiben sollen und gleichzeitig Fußballspiele stattfinden, dann denke ich, dass die DFL den Bogen endgültig überspannt hat. Das Fanvolk soll das Geschehen am Bildschirm im Wohnzimmer verfolgen. Gerade bei Derbys wird es sicherlich Menschengruppen geben, die es nicht zu Hause auf dem Sofa aushalten, sondern versuchen werden, das Spiel gemeinsam zu schauen. Die Ordnungskräfte haben sicherlich besseres zu tun als in diesem Fall Menschengruppen auseinanderzutreiben. Die Politik zeigt aktuell eine nie dagewesene Entschlossenheit zu gestalten. Es bleibt spannend, mitzuverfolgen, wie sie auf die Pläne der DFL reagieren wird.  

Egal, ob es nun zu Geisterspielen kommen wird oder nicht – die DFL hat durch ihren Entschluss, die Saison möglichst bis zum 30. Juni 2020 auf Gedeih und Verderb zu Ende zu bringen, gezeigt, dass für sie die Zuschauer in der Produktionsstätte bloßes Beiwerk sind:

  • Das Kind, das zum ersten Mal mit Mama und/oder Papa hingeht.
  • Das Rentnerpärchen, das seit Jahrzehnten nuff geht.
  • Die Gruppe an Flüchtlingen, die im Rahmen von „In unserer Kurve ist noch Platz“ dorthin kommt.
  • Die Mitglieder karitativer Einrichtungen, die auf Einladung eines Sponsors einen Besuch geschenkt bekommen.
  • Die beiden Nasen, die sich durch das Premium-Fenster das Spiel anschauen dürfen.
  • Die gut Betuchten, die einen Logenplatz gebucht haben.
  • Die Normalos, die sich einfach mal wieder aufregen und/oder pöbeln wollen.
  • Die Selbstdarsteller*innen, die das Rampenlicht mittels Clownskostüm suchen.
  • Die Analyst*innen, die sich mit Doppelsechsern, falschen Neunern und Dreier-, Vierer oder Fünfer-Ketten beschäftigen.
  • Die Ultras, die, wenn sie nicht gerade böse Plakate basteln oder dekadent Klorollen aufs Spielfeld werfen, so schöne Choreos durchführen (und deutschlandweit aktuell sehr viel Hilfe den Risikogruppen anbieten – danke dafür, übrigens).
  • Die Kutten, die schon immer da waren.
  • Die Koreaner*innen und Japaner*innen, die für ein Selfie mit Ihren Idolen an die Werbebande kommen.
  • Die Modefans, die auch schon „immer da“ waren.

Sie sind alle systemirrelevant!

Es stellt sich für uns für die Zukunft die Frage: Brauchen wir es noch? Dieses Produkt Fußball in seiner aktuellen Form?

Quellen:

„Coronavirus: Helmut Manko kritisiert „Panimache“ in der Politik“ Formel 1.de vom 10. März 2020

„Formel 1- Red-Bull-Berater plante Corona-Camp“ SZ.de vom 30. März 2020

DFL-Präsidium empfiehlt Aussetzung von Bundesliga und 2. Bundesliga bis mindestens 30. April – Medienrechte-Ausschreibung wird verschoben“ dfl.de vom 24. März 2020

Mitgliederversammlung der DFL beschließt weitreichende Anpassungen im Lizenzierungsverfahren zur Entlastung von Clubs“ dfl.de vom 31. März 2020

Fußball-Bundesliga soll ab Mai mit Geisterspielen wieder starten“ kicker.de vom 31. März 2020