Antarktis 2008

Eigentlich sollte Euch diese Email bereits vor einer Woche erreichen. Doch gibt es auf unserer Erde doch noch Plätze, an denen es keine Internetcafés gibt. Daher erzähle ich Euch erst heute, was ich so am Jahresanfang gemacht habe und wünsche Euch gleichzeitig einen guten Start in die Woche.

Die Zeiten werden immer schnelllebiger. Nachdem ich das letzte Mal 2002/2003 von Mainz nach Punta Arenas in Chile etwas über 6 Monate unterwegs war, da ich den Umweg mit Bus, Bahn und Schiff via Island und Nordamerika nahm, schaffte ich es im noch jungen 2008 in knapp 24 Stunden nach ganz unten, ins wahre Downunder.

Dass für diese Mammut-Reise nur eine Bordkarte notwendig war, hatte ich dem Charterflieger der LTU zu verdanken. Damit aber alles nicht allzu einfach ablief, ging es erst einmal in einem ersten Hüpfer ins 3148 km entfernte Las Palmas. Dort war eigentlich nur ein Besatzungswechsel sowie ein kurzer Tankstopp vorgesehen. Doch diese Zwischenlandung dauerte dann doch länger als der Flugplan es vorsah, da es geschlagene 150 Minuten brauchte, um 50 läppische Tonnen an Kerosin in die Kiste zu packen. Unter normalen nicht kanarischen Zuständen würde so etwas ca. 30 Minuten dauern– aber was soll’s, denn wir durften das Flugzeug ja nicht verlassen und so konnte man sich wenigstens noch ein wenig besser daran gewöhnen, fast 24 Stunden in einem Airbus A 330-200 zu leben.

Voll getankt stand nun ein Nachtflug über 6120 km nach Sao Paulo auf dem Programm. Da wir Passagiere bei der Ankunft in der brasilianischen Metropole bereits 14 Stunden im Flieger saßen, durften wir nun zur Abwechselung dieses Mal aussteigen und zunächst einmal wieder unser Handgepäck durchleuchten lassen. Als Dank gab es hinter der Sicherheitskontrolle einen Gutschein. Die Höhe des Betrags war bereits vor der Landung von den Flugbegleitern mit 8 US-Dollar angegeben worden.

Das war eine prima Idee, denn auf dem Papier fand sich kein Betrag. Stattdessen war wenigstens per Hand „Gate 10“ hingeschrieben worden, was ja auch recht praktisch war, denn niemand wusste, von wo wir weiterfliegen, noch wann wir weiterfliegen sollten. Nun ja 8 US-Dollar kann viel bedeuten, wenn im Flughafen alles in der brasilianischen Landeswährung angegeben war. Durch den schwachen Dollar, war es natürlich höchst schwierig in der Cafeteria den etwaigen Wert zu taxieren. Am Ende hatte es für ein Wasser, einen Kaffee und eine Empanada (Teigtasche) gereicht– Zumindest wenn die nette Bedienung einfach mehrere Gutscheine zusammenrechnete, da einige andere Reisende lediglich einen Kaffee orderten. Pragmatismus pur!

Das Ziel Punta Arenas war nach 24 Stunden Flug erreicht
Das Ziel Punta Arenas war nach 24 Stunden Flug erreicht

Dieser äußerte sich auch in der Bezeichnung des Fluges, der in Frankfurt noch mit LTU LT9061 gestartet war. An Bord konnte man dann schon die Air-Berlin-Übernahme erahnen, denn das Bordmagazin hieß schon wie die Muttergesellschaft, genauso wie die Außenverpackung der Sandwichs, wohingegen die Brötchen noch in einem LTU-Karton gereicht wurden. Auf der Südhalbkugel angekommen, war dann die Namensänderung vollkommen: Mangels LTU-Logo war nun eines der amerikanischen Airline Delta angezeigt, denn was haben LTU, die Mutter Air Berlin und Delta gemeinsam? Richtig, sie haben rote Logos! Und was liegt da näher, als das Delta-Logo auf der Anzeigetafel zu nutzen. In der Spalte „Remark“ war dann die erklärende Bezeichnung „TPS-01″ angegeben. Was das wohl heißen mag? Auf jeden Fall war plötzlich“Gate 7“ für den „Delta-Flug“ angegeben.

Nun ja beim Kaffeetrinken im Wartesaal durfte dann im Land des Rekordweltmeisters wenigstens Fußball im TV geguckt werden (Luton vs. Liverpool und Andrej Voronin saß wie bei ehemaligen 05ern üblich natürlich auf der Bank). Und eingestiegen wurde schließlich weder von Gate 10 noch von Gate 7 sondern von Gate 9 – wie uns der Angestellte persönlich mitteilte. Ansagen sind in Sao Paulo morgens um sechs wohl noch nicht so angesagt. An Bord wurde uns dann mitgeteilt, dass der Flugplan gerade erst eingetroffen sei. So hatten wir eine weitere Verspätung von ca. 30 Minuten– aber was soll’s. In fünf weiteren Flugstunden ging es auf das letzte Teilstück, um nach 3878 km nun endlich in Punta Arenas anzukommen. Wir rollten auf die Parkposition und dachten, wir hätten es geschafft. Doch zu früh gefreut und zu weit gerollt: Die Fluggastbrücke konnte nicht angelegt werden und somit mussten wir auf einen Flugzeugschlepper warten, der die Maschine schließlich zwei Meter zurückdrückte, ehe wir nach 23 Stunden und 56 Minuten endlich in Punta Arenas angekommen waren und chilenischen Boden betreten durften.

Punta Arenas, Chile
Punta Arenas, Chile

Dies war der Tag der Superlative, denn nachdem ich gerade ich meinen längsten Flug in meinem Leben ohne Thrombose überstanden hatte, schaffte ich auch gleich noch den kürzesten Aufenthalt meines Lebens in einem fremden Land – innerhalb eines Tisches am Flughafen Punta Arenas. Der erste Beamte am Tisch drückte mir den Einreisestempel nach Chile in den Pass hinein, ehe seine Kollegin, die dreißig Zentimeter neben ihm saß, mir bereits schon wieder den Ausreisestempel verpasste.

Dieser „Rausschmiss“ aus Chile war allerdings Programm, denn wenig später saß ich bereits an Bord meines Schiffes, der MS Vistamar, um völlig unspektakulär einfach so mir nichts dir nichts in See zu stechen und Chile wieder zu verlassen. Zunächst waren die letzten Häuser verschwunden, dann der Empfang per Handy und schließlich das südamerikanische Festland. Durch die Magellan-Straße schipperte das Schiff nach Süden, an immer höher hinaus ragenden Felseninseln vorbei, die mehr und mehr Schneeflächen aufwiesen. Aus dem Schnee wurden schließlich Gletscher, aus dem ruhigen Fahrwasser, schäumende Wellen und aus dem strahlend blauen Himmel, gespenstische weiß-schwarze Wolkenstimmungen. In diesem Teil der Welt zieht die Natur ein sagenhaftes Schauspiel mit Licht und Schatten, Wolken und blauen Himmel ab, so dass das Zuschauen an Deck niemals langweilig wird. Ab und zu wurde das Schiff von posierenden Orcas (große Schwertwale) und Vogelschwärmen begleitet – kein Wunder, denn was sollen die Tiere in diesem abgeschiedenen Teil der Welt auch anderes tun. Die Temperatur von ca. 13° C wurde durch den aufkommenden Wind gefühlt, auch immer niedriger und so langsam tuckerten wir dem Ende der Welt und der ersten Nacht entgegen.

Magellan-Straße, Chile
Magellan-Straße, Chile

Am nächsten Morgen lief das Schiff, nachdem es sich kurzzeitig auf dem offenen, schaukelnden Pazifik befand, ostwärts in den Beagle-Kanal ein. Das Wetter zeigte sich wieder von seiner besten Seite. Strahlend blauer Himmel, ruhige See, steile Felshänge mit hohen Wasserfällen und Gletscher, die direkt ins Meer hinabstürzten, bildeten eine faszinierende Szenerie, zu der es sich sehr gut frühstücken ließ. Mittags wurde, nach ca. 520 km Seereise, die wahrscheinlich südlichste Stadt der Welt, Ushuaia erreicht.

Beagle-Kanal, Chile-Argentinien
Beagle-Kanal, Chile-Argentinien

So ganz sicher mit diesem Superlativ kann man nicht sein, da auf der Südseite des Beagle-Kanals die Chilenen mit dem Kaff Puerto Williams (2.000 Einwohner) diesen Titel beanspruchen. Aber auch die sehr künstlich anmutende argentinische Stadt Ushuaia (60.000 Einwohner), auf der Nordseite des Kanals gelegen, hat mit dem Begriff Stadt recht wenig zu tun. Chile und Argentinien stritten sich in der Historie nicht nur um solche Lappalien, wer die südlichste Stadt der Welt nun innehat, sondern auch um die große Insel im Süden Südamerikas: Feuerland.

Auf dieser vermutete man große Ölvorkommen – Grund genug für Menschen, bekanntlich auch in anderen Teilen unserer Erde einen Krieg anzufangen. Dieser wurde in den 80ern des letzten Jahrhunderts in letzter Minute durch Papst Johannes Paul II. verhindert, da beide Staaten erzkatholisch sind und der friedliebende Papst seine Autorität für den Frieden erfolgreich einsetzen konnte. Der Name Feuerland stammt vom Seefahrer Magellan, der bei seiner Weltumsegelung von 1519 bis 1522 Feuerland „entdeckte“ und die Passage zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel als erster Europäer durchfuhr. Er nannte sie so, da er überall aufsteigende Rauchsäulen entdeckte. Diese stammten von den dort lebenden indigenen Einwohnern. Für diese war das Feuer dermaßen existenziell wichtig, da es wegen der niedrigen Temperaturen, die hier schon immer vorherrschten, es ein fatales Geschehen gewesen wäre, wenn ein Feuer einmal ausgegangen wäre. Durch die Ankunft der Europäer geschah langfristig mit den Ureinwohnern, das, was auch im restlichen Teil der Welt leider immer wieder geschah: Sie wurden durch eingeschleppte Krankheiten und Jagd auf sie selbst, innerhalb von ca. 30 Jahren ausgerottet.

Ushuaia, Argentinien
Ushuaia, Argentinien

Heute ist Ushuaia lediglich ein Verkehrsknotenpunkt, um den Feuerland-Nationalpark zu besuchen, oder einfach mal die Panamericana, die Straße, die sich durch ganz Amerika zieht, rund 17.000 Kilometer nach Norden zu fahren, um nach Alaska zu gelangen. Gut, ich hatte heute Alaska nicht auf dem Programm, also ging es mal wieder ein wenig wandern und die Natur genießen. Diese ist auch am südlichen Ende der Welt nicht ganz so paradiesisch, wie wir es uns vielleicht gerne vorstellen, denn der Mensch versucht ja immer irgendwie Profit zu machen. Und die ersten Siedler hier unten, dachten, wir kopieren mal das, was ganz oben im Kontinent gut funktioniert: der Handel mit Biberpelzen. Also wurden diese Viecher aus Kanada importiert und nach ein paar Jahren stellte man fest, dass man mit diesen Pelzen nicht reich werden würde. Dafür vermehrten sich die Tiere sprunghaft, mangels natürlicher Feinde, und setzten erstmal die Insel Feuerland unter Wasser, da sie ja so gerne Dämme bauen. Diese sind auch heute noch zu bewundern, denn als Jagdobjekt taugen Biber nicht, da sie als Wild nicht kulinarische Begeisterungsstürme hervorrufen und auch der staatlich geförderte Abschuss dieser Spezies nur rund 15 Euro pro Skalp einbringt. Aufgrund der Scheu und Nachtaktivität ist dies ein eher schwieriger und folglich unrentabler Nebenverdienst.

Ein anderer Flop mit der Einfuhr fremder Tiere, waren die Kaninchen. Auch diese vermehren sich unkontrolliert und auch diese führen mangels natürlicher Feinde ein geruhsames Leben in der neuen Welt. Für Argentinier kommen diese Lebewesen auf dem Speiseplan nicht vor, da für die Chicas und Chicos dieses Teils der Erde, Fleisch nur dann als Fleisch gilt, wenn es mindestens schuhsohlengroß ist und die Dicke eines Brötchens hat. Somit werden Kaninchen nicht als Jagdtrophäe akzeptiert, anders als bei ihrer Einführung durch hungrige Soldaten am Ende des vorletzten Jahrhunderts.

Feuerland-Nationalpark, Argentinien
Feuerland-Nationalpark, Argentinien

Das Wandern im Feuerland Nationalpark bietet vor allem meteorologisch gesehen permanent eine Abwechselung, da hier April-Wetter praktisch Programm ist. Kaum gibt es einen Platzregen mit heftigem Sturm und kaum hat man sich entsprechend in Gore-Tex-Jacke und Wanderstiefel gezwängt, da scheint schon wieder die Sonne und man fängt im Südsommer bei 15° C und Windstille sofort an zu schwitzen. Das Wandern durch die Moore und die subpolaren Urwälder mit ihren von Flechten überzogenen Bäumen und den von Moos bewachsenen Felsen war gerade zum Abtrainieren von auf dem Schiff angefressenen Fettreserven eine gute Idee. Schließlich war das erste, was man nach der Rückkehr auf das Schiff machte Essen. Um kurz vor Mitternacht: Essen, morgens von acht bis zehn: Essen, mittags Essen, nachmittags Essen und schon war wieder ein kulinarisches 24-Stunden-Programm vorbei. Die Kunst auf Schiffsreisen besteht meiner Meinung darin Verzicht zu üben, hauptsächlich bei der Völlerei, aber auch bei alkoholischen Getränken.

Schließlich sind Fahrten in diesem Teil der Erde nicht immer ein beschauliches Vergnügen: Durch das östliche Ende des Beagle-Kanals schipperten wir durch die Nacht nach Süden und der Wellengang wurde immer heftiger. Die Bullaugen in diesem Teil der Welt müssen bei Schiffen permanent aus Sicherheitsgründen verschlossen sein, so dass ich von außen nur das Gurgeln und Gluckern hören konnte, wenn das Schiff bei jeder Welle in die Tiefe abtauchte. Morgens passierten wir schließlich das berühmte Kap Hoorn, den angeblich südlichsten Punkt Südamerikas. Dabei ist Kap Hoorn lediglich ein 424 m hoher vorgelagerter Fels. Kap Hoorn wurde 1616 von zwei holländischen Seefahrern „entdeckt“ und diese nannten es Kap Hoorn einfach und pragmatisch nach einem ihrer Segelschiffe „Hoorn“. Die chilenischen Inseln Diego Ramirez liegen 100 km südwestlich von Kap Hoorn und stellen den eigentlich südlichsten Punkt Südamerikas dar, oder sollte vielleicht der südlichste Punkt Feuerlands in der Nähe von Ushuaia dies sein oder gar lediglich der südlichste Punkt des südamerikanischen Festlands?

Kap Hoorn, Chile
Kap Hoorn, Chile

Mit Extremen ist es halt immer extrem schwierig. Auf jeden Fall herrschte beim Passieren von Kap Hoorn extremes Wetter – obwohl nur Windstärke 6 herrschte. Hier treffen die Wassermassen von Pazifik und Atlantik aufeinander. Dieses Meeting äußert sich in fünf, sechs Meter hohen Wellen und einem Wind, der mich fast umgeschmissen hat. Das Schiff schwingt dementsprechend nach links und rechts sowie nach vorne und hinten. Das Sich-Fortbewegen fällt einem bei so einem Wellengang schon sehr schwer, etwa so wie nach einer gut durchzechten Nacht an Land. Man muss sich beim Laufen gerade auch im Inneren des Schiffes überall festhalten, wenn man am Ende der Seereise nicht total verbeult ankommen will. Auch der Magen stellt sich auf dieses Schwanken recht schnell ein und reagiert oft mit einem Über-Bord-Werfen von unnötigem Ballast. Daher war es ein guter Einfall, alle zwei Meter kleine Plastikbeutel zu postieren, die in relativ kurzer Zeit vom großen Teil der Reisenden wohl in Anspruch genommen wurden. Den Pillen meines heimischen Pharmazeutinnensupport sei Dank und ich überstand die Überfahrt bisher ohne Umkehrschub in der Magenregion.

Das ganze Schwanken und Wanken ist allerdings beste Übung für die bald anstehende Fastnacht im „goldischen Meenz“ und es war nett anzusehen, sich auf der Toilette festzuhalten und Labello- und Lippenstifte beim Hin- und Herschunkeln zu bewundern, genauso wie Zahnputzbecher und aufgehängte Handtücher. Abends lädt dazu die Showband ein, sich auch schon musikalisch auf die närrischen Tage einzustellen, so dass ich bei meiner heutigen Rückkehr nach Mainz karnevalistisch nicht ins Hintertreffen geraten bin, Helau! 

Kapsturmvögel und Albatrosse, Süd-Ozean
Kapsturmvögel und Albatrosse, Süd-Ozean

Irgendwann beruhigte sich das Meer wieder ein wenig und wir wurden auf der Fahrt nach Süden von Kapsturmvögeln, Südlichen Riesensturmvögeln und Albatrossen begleitet. Die Vögel schwirrten stundenlang am Heck des Schiffes hinterher. Je weiter es nach Süden ging, desto zahlreicher wurden die fliegenden Begleiter. Eigentlich sah es immer unwirtlicher aus und ich hätte ohne die Tiere das Gefühl gehabt, wirklich so langsam das Ende der Welt erreicht zu haben. Zu den fliegenden Begleitern gesellten sich am Abend des zweiten Tags auf offener See dann plötzlich auch Wale, was zunächst am Auspusten vom Luft-Wasser-Gemisch erkennbar war. Und plötzlich näherte sich auch der erste einzelne Eisberg. Einige Stunden später fühlte ich mich schon fast von diesen gefrorenen Kolossen umzingelt, und die Zahl der Vögel, die uns weiterhin unablässig folgten, stieg in die Hunderte. Nach fast 50 Stunden Überfahrt, die See hatte sich zum Glück längst beruhigt, kamen die ersten Eispanzer des Festlands der Süd-Shetland-Inseln zum Vorschein. Was ich dann da unten ganz im Süden unserer Erde alles so erlebte, erzähle ich Euch im zweiten der Teil.

Osteuropa 2007 letzter Teil

Guten Tag aus Mainz!

Hatte ich beim Verlassen von Rumänien über die teilweise konstant schlechte Strass geschimpft, dann wusste ich noch nicht, was mir in der Republik Moldau bevorsteht – zumal die ersten Kilometer auf einer Betonpiste sich gar nicht so schlecht anließen. Aber dann mutierte einerseits die Straße in eine Trasse, die alle drei bis vier Meter quer über die Fahrbahn wie ein Keks durchgebrochen war. Das Vorwärtskommen ähnelte dem Radeln auf Eisenbahnschwellen und dies tat meinem Hintern mehr als weh. Um eine Reise vorzubereiten, liest man für gewöhnlich sich mit einem Reiseführer ein. Meiner laberte etwas davon, dass das Radeln wegen der schlechten Strassen strapaziös sei – aber das Land „flach wie ein Brett sei“. Hm, der Reiseführer stammt aus Australien und vielleicht heißt dort die Bezeichnung „flach wie ein Brett“, dass man in Downunder von der Vertikalen spricht. So in etwa sind dann in der Realität auch wirklich die Strassen angelegt: Mir gingen immer wieder die Worte „hoch und nieder immer wieder“ im Kopf rum, denn es ging immer einen Hügel hoch und sofort wieder runter und wieder hoch und… Vielleicht hatten die Aussies auch nur ein Brett vorm Kopf, denn so eine Aussage zu treffen, da muss man schon ganz schön neben der Spur sein.

Die hügelige Landschaft und die Schwellenstraße als Pappelallee angelegt, luden zum Dauer-Picknicken ein. Als dann noch die ersten Pinienwälder und die Myriaden von Weinbergen auftauchten, kam ich mir vor, als ob ich in der Provence oder der Toskana durch die Gegend holpere – OK die Strassen ließen mich wieder daran erinnern, dass ich in Moldau unterwegs war. Der Verkehr nahm immer mehr zu und irgendwie überholten mich kaum Ladas oder Dacias, die rumänische Automarke, sondern nur deutsche Wertarbeit. Die Moldauer scheinen es zu lieben, unter einem guten Stern oder mit weiß-blauem Karologo durch die Gegend zu düsen. Das Tempolimit hängt eher vom Verkehr, dem Straßenzustand und den Witterungsbedingungen ab als von irgendwelchen, zum Teil handgemalten, Verkehrszeichen. Ich kam mir wie ein Zuschauer einer Autowerbung bei einer Pause der „Sportschau“ vor. In vielen Ländern fahren ja die Reichen deutsche Kisten. Diese sehen dann aber schon meist sehr mitgenommen aus, es fehlen Außenspiegel oder das Model ist nicht mehr ganz das neueste. Hier könnte man die IAA direkt auf der Landstrasse abhalten. Nur die Top-Modelle holpern durch dieses kleine Land. Und jetzt verstehe ich auch, warum es fast in jedem Kaff eine Waschanlage gibt.

Nach 165 Kilometern erreichte ich schließlich mit dem Sonnenuntergang die Außenbezirke von Chisinau, das mal wieder in einer Mulde liegt – aber dessen Strassen halbwegs gut geteert waren. Kopfsteinpflaster scheint in Moldau glücklicherweise unbekannt zu sein. Dafür herrschte wohl Bettenknappheit, da die billigen Hotels alle voll waren. Schließlich fand ich Unterschlupf in einer 17-stöckigen Touri-Kolchose, und mein Rad landete auf dem bewachten Hotelparkplatz neben einer Harley und einem Mercedes Coupé. Auf der Hotelsuche bin ich an einem Schickimicki-Restaurant nach dem anderen vorbeigefahren. Dabei bin ich doch gerade in der Hauptstadt des ärmsten Lands Europas angekommen. Der Durchschnittslohn liegt bei 70 US-Dollar im Monat!

Hm, was soll ich in einer solchen Situation machen? Ich beschloss, die Frage lieber mal zu ignorieren, woher all die Kohle stammt, die hier protzig zur Schau gestellt wird. Vielmehr genoss ich die kulinarisch wirklich extrem gute Restaurantszene und wunderte mich nicht weiter. Vielmehr staunte ich über das „Beer House“, die erste Gasthausbrauerei in Chisinau und das ungefilterte, kühle Blonde, das hier frisch gezapft in Weizengläsern serviert wird. Auch die Speisen waren wie bspw. Truthahn in Banane sehr kreativ und langsam verstand ich die Welt an diesem Ort nicht mehr. Denn auch auf der Strasse sind Bettler, wie übrigens auch in Rumänien und der Ukraine die totale Seltenheit. Niemand läuft zerlumpt durch die Gegend. Die High-Heels-Komune aus L’viv ist hier weniger anzutreffen als die edle Flip-Flop-Brigade, was auch ohne Kopfsteinpflaster auf einen deutlich größeren Pragmatismus der moldawischen Damenwelt schließen lässt.

Die Stadt selbst, würde man die reinen Fakten gelten lassen, wäre als potthässlich zu bezeichnen. 1940 durch ein Erdbeben praktisch schon am Tropf hängend, machte der 2. Weltkrieg der im 15. Jhdt. gegründeten Stadt den Garaus. Das Land, früher unter dem Namen Bessarabien bekannt, war mal kurz nach der Oktoberrevolution der Russen 2 Monate unabhängig. Sonst gehörte es entweder als Provinz Moldawien zu Rumänien oder zu den Russen bzw. ab 1945 als Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik zur UdSSR. Und so hielten die Plattenbauten Einzug in der zerstörten Stadt. Doch irgendwie waren die Planer auf dem grünen Trip und so ist die im Schachbrettstil angelegte Stadt mit Alleen und Parks durchzogen. Das dichte Blätterdach liegt wie ein Schleier auf den Häuserschluchten, das jeden Blick nach oben auf die Betonklötze dezent unterbindet. Dadurch guckt man automatisch nur in die Strasse, und so fühle ich mich in der Stadt sogar sehr wohl. Die zum Teil sehr hübschen Menschen flanieren die breiten, panzertauglichen Boulevards entlang, und dabei ist alles nur eine Frage des Sehens und Gesehen Werdens.

Was mich weiterhin in diesem Land irritiert ist die Sprache, die hier gesprochen wird. Offiziell wurden, Gorbi sei Dank, 1988 zunächst einmal wieder die lateinischen Schriftzeichen und „Moldawisch“ eingeführt. Trotzdem finden sich sogar noch Verkehrsschilder vereinzelt in kyrillischen Schriftzeichen. Auf der Straße höre ich auch mehr slawische Gesprächsfetzen – also entweder russisch oder ukrainisch. Das mit dem „Moldawischen“ ist eigentlich ein Witz, denn es ist handelt sich dabei höchstens um einen Dialekt der rumänischen Sprache. Doch in einem Anflug von übertriebenem Nationalstolz wurde sogar ein Moldawisch-Rumänisch-Wörterbuch publiziert. Dies würde in etwa einem Meenzerisch-Deutsch-Wörterbuch entsprechen. Doch das Wörterbuch ist nur ein Mosaikstein für die Politik, die hier betrieben wird. Präsident Voronin versucht sowohl mit Russland zu kuscheln, in dem er sich von den rumänischen Wurzeln, die hier überall existieren, distanziert. Gleichzeitig kuschelt er mit EU und NATO um Hilfe zu ergattern, die dieses Land bitter nötig hat – trotz all dem Protz auf der Gasse.

Die Menschen, denen ich hier begegne, freuen sich über uns Touristen – denn wir haben hier Seltenheitscharakter. Viele haben in der Schule Deutsch gelernt, der DDR sei Dank, und nun versuchen sie ihre verrosteten Deutschkenntnisse aufzufrischen. Dies geschieht nicht aufdringlich sondern eher nebenbei, wie bspw. bei den Parkwächtern meines Rads. Fußball und die EM-Qualifikation ist natürlich ein gutes Thema und schon saß ich in dem Häuschen der Parkwächter und es wurde über die Quali-Chancen von Russland und Rumänien diskutiert – Moldau hat sowieso keine Chance – und aus der ehemaligen Sprudelflasche wurde mir plötzlich Rotwein serviert. Wenn man etwas über Moldau weiß, dann vielleicht, dass dieses Land praktisch nur aus Weinbergen besteht und die Qualität des Traubensaftes sagenhaft ist. So war auch der Rotwein im Parkhäuschen außergewöhnlich gut (verträglich).

Nachdem ich die Stadt erwandert hatte, machte ich mal wieder einen Radausflug. Die Touri-Attraktion schlechthin von Moldau ist ein Kloster, das in den Sandstein an einer Flussschleife gehauen wurde. Dementsprechend begegneten mir doch tatsächlich drei „Touristen“, die aber eigentlich geschäftlich hier zu tun hatten. Zunächst versuchte ich das Kloster über die Trampelpfade am Felsrand zu erreichen, was aber unmöglich war. Die Fenster des Klosters waren wie bei den Feuersteins in den Fels gehauen, doch um dort hinein zu gelangen musste ich den Tunnel finden. Eine große Holztuer, die eigentlich verschlossen aussah, ließ sich dann doch mit etwas Kraftaufwand öffnen. Über eine Treppe im Finsteren gelangte ich schließlich durch den Fels ins Kloster, wo ich von einem einsamen Mönch mit wehenden, langen, dünnen, grauen Haaren und Rauschebart empfangen wurde. Der große Raum wirkte mit vielen Jesus- und Marienbildern und dem goldenen Altar etwas überladen – dennoch besaß er eine sehr zur Besinnung einladende Atmosphäre.

Sehr unbesinnlich, weil wieder auf der Straße, radelte ich von Chisinau weiter in Richtung Südosten weiter, Odessa, dem Ziel meiner Radtour entgegen. Eigentlich wäre es am einfachsten gewesen, diese Distanz von ca. 175 Kilometern mit einem Übernachtungsstopp in Tiraspol zurückzulegen. Doch der Geschichte sei Dank, haben die Menschen mal wieder mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. So einfach so ans Schwarze Meer zu radeln, das geht ja gar nicht. Schließlich gibt es in Moldau den Fluss Dnjestr, halb so breit wie der Rhein, dafür doppelt so wichtig als Grenze zwischen zwei Kulturen. Südlich des Dnjestr leben hauptsächlich Moldauer mit rumänischen Wurzeln, nördlich davon im so genannten Transnistrien Moldauer mit russischen und ukrainischen Ursprüngen. Als es mit der UdSSR rapide bergab ging, steigerte sich das Besinnen auf die jeweilige Vergangenheit ins Unermessliche. Transnistrien befürchtete eine Wiedervereinigung Moldaus mit Rumänien, wohingegen Moldau unabhängig von allen werden wollte und Transnistrien eher bestrebt war, die Sowjetunion wieder aufleben zu lassen. Es kam 1992 zum Bürgerkrieg im Hinterhof Europas, den natürlich niemand so richtig gewann. Aber seither ist Transnistrien ein Staat im Staate, mit eigener Währung, eigener Fahne, eigener Armee, eigener Polizei und eigenem Selbstverständnis von einem Land – schließlich wird es von keinem Staat der Welt anerkannt. Dieses Selbstverständnis bringt mir als Reisendem aber nicht viel, denn in Transnistrien haben Hard-Core-Stalinisten das Sagen, die das Wort Rechtsstaat sicherlich noch nie gehört haben. Theoretisch ist es möglich, durch diese abtrünnige Region zu reisen, doch leider ändern sich die „Einreisebestimmungen“ schneller, als die Transfergerüchte bei manch einem Fußballspieler und zweitens wird der jeweilige zu entrichtende Betrag zum Erhalt der „Ein- bzw. Ausreisegenehmigung“ individuell festgelegt – sprich der Korruption und der Willkür sind hier Tür und Tor geöffnet.

Also wurde das nix mit Transnistrien, und ich bog von der Holperstraße Richtung Stalinismus pur nach Süden ab, um zur ukrainische Grenze zu strampeln. Allerdings begab ich mich mit dieser Routenänderung mal wieder in eine sehr prekäre Lage. Wo würde es auf dieser Strecke ein Hotel geben? Darf ich als Tourist die Grenze dort überschreiten? Schließlich sind manches Mal auf unserem Planeten nicht alle Grenzen für Jedermann geöffnet. Ja gibt es überhaupt Restaurants im Süden Moldawiens und führt die Strecke nicht womöglich doch noch über das Gebiet von Transnistrien, das sich sporadisch auch über den Fluss nach Süden ausstreckt?

Peu à peu wurden mir meine Sorgen genommen. Zunächst sah ich schon mal Vehikel mit ukrainischen und russischen Nummernschildern, Busse mit den Schildern „Odessa-Chisinau“ darauf geschrieben und Corps Diplomatique Kennzeichen. Also war die Grenze offen und der Umweg über Südmoldau, um Transnistrien zu umgehen, wohl berechtigt. Dann fand ich in einem Ort ein Restaurant, wo mir nach längerem Hin- und Her die Frage gestellt wurde, was ich denn essen möchte, denn es gab keine Karte und der Wirt machte mir den Anschein, dass ich ihn mit meinem Hungergefühl überraschte. Mir fielen die rumänischen Wörter „porc“ (Schwein), „cartofi“ (Kartoffeln) und „salat“ ein und ruckzuck landete ein Wiener Schnitzel mit Pommes und Salat auf meinem Tisch.

Die Marketing-Strategie der Werbung für ein Hotel in einem Weingut wurde mittels großer Tafeln am Straßenrand bis zum Exzess durchgeführt, und ich wich von meinem ursprünglichen Plan ab, in einem einfachen Gasthaus zu nächtigen, welches in meinem Reiseführer aufgelistet war. Ich hatte eh kein großes Vertrauen mehr in diesen Reiseführer, da viele Dinge, die es vielleicht einmal in Moldau gab, plötzlich nicht mehr gab. Dafür gab es ja bekanntlich umgekehrt auf einmal viele Hügel, die die Autoren des Reiseführers als „flach wie ein Brett“ bezeichneten. Ich bog von der Straße nach 120 Kilometern ab und rollte zum Dnjestr 5 Kilometer steil bergab, um dann vor der Hotelpforte von einem Wächter im Kampfanzug begrüßt zu werden. Anscheinend hatte man keine Lust für einen Gast die Tür zu öffnen und mit einem „Njet“ verstand ich, dass ich jetzt ein Übernachtungsproblem hatte. Da man in Moldau immer einen Plan B haben muss, radelte ich eine Abkürzung in das Dorf, in dem es angeblich ein Gasthaus gab. Nach ca. 20 Kilometern auf der Schotterpiste erreichte ich den Weiler. Im Buch stand eine Telefonnummer, niemand nahm ab, aber es gab ja auch eine Adresse – dumm nur, dass es in dem Dorf gar keine Straßennamen, geschweige denn Hausnummer gab. Und die Einheimischen wussten nichts von einem Gasthof!

Samstag Abends kurz vor Sonnenuntergang in Südmoldawien hatte ich nun echt ein Problem. Wo sollte ich ohne Zelt übernachten. Nach 2 Stunden befand ich wieder an der Kreuzung an der ich ursprünglich zum ersten Hotel abbog und fuhr weiter. Natürlich muss man auch mal Glück haben und dieses fand ich in Form einer Fernfahrerkneipe – der einzigen die ich in 391 Kilometern Moldau-Radeln fand. Ich durfte die Nacht in der 24 Stunden lang geöffneten Kneipe verbringen. Allerdings kamen dann die Fernfahrer in den Gasthof, gaben mir einen „Schnaps“ wie sie sagten nach dem anderen gegen meinen Willen aus. Es war natürlich Wodka und am Ende des Abends boten sie mir an, auf der Pritsche in der LKW-Kabine zu nächtigen. Mit Ohropax hielt ich auch das Geschnarche eines moldauischen Fernfahrers aus und war froh ein Dach über dem Kopf für die Nacht gefunden zu haben.

Am nächsten Morgen rollte ich ohne Kater halbwegs ausgeschlafen zur Grenze, wurde von den Beamten wieder zuvorkommend bedient und war ruckzuckwieder in die Ukraine eingereist. Da meine beiden Karten sich mit den Entfernungen mal kurz um 40 Kilometern verrechneten, brauchte ich nur 85 statt 125 Kilometer, um in Odessa am Schwarzen Meer anzukommen. Kaum im Hostel – oh ja! – angekommen, zu Mittag gegessen, fuhr ein Bus mit dem Team von Schachtjor Donetsk an mir vorbei. Als dann die ersten Fans mit Schwarzmeer-Odessa-Fanschals an mir vorbeimarschierten, nahm ich die Fährte gemeinsam mit einem Engländer auf, ukrainische Bundesliga live im Stadion zu verfolgen. Das Stadion liegt wie das Volksparkstadion in Hamburg in einem riesigen Park und anders als in Mainz gab es an der Tageskasse noch Karten für das Spiel. Stadionzeitungen wurden auch verkauft – allerdings hatten diese keinen Informationscharakter sondern schützten den ukrainischen Hintern vor dem Schmutz auf den Sitzen.

Als Snack auf den billigen Plätzen gab es Popcorn und Schrimps aus der Papptüte. Um das Anstehen für Getränke zu verkürzen wurde das Bier kurzerhand einfach in 1-Liter-Plastikflaschen verkauft, mit denen man allerdings dann nicht mehr auf die Sitze durfte. Vielmehr fristeten wir Biertrinker unser Dasein in der Verbannung am oberen Tribünenrand. Das Spiel war vor allem aus Sicht von Donetsk recht schlecht, denn die spielen ja regelmäßig UEFA-Cup und dafür war dieses 0:0 einfach grottig. Die Zuschauer machten allerdings gut Stimmung und so war der Sonntag Nachmittag gerettet. Außer Fußball gucken, lieben es die Bewohner von Odessa sich an den Strand zu knallen oder in der Innenstadt flanieren zu gehen. So ließ auch ich das Ende dieser Reise gemütlich am Schwarzen Meer ausklingen. Nach 1.145 Radel-Kilometern durch eine für mich davor sehr unbekannte Region unseres Kontinents, bin ich von den bereisten Ländern wirklich sehr angetan. Vielleicht ist es jetzt und in den nächsten beiden Jahren wirklich die beste Zeit, diese verborgenen Perlen zu entdecken, bevor L’viv wie Prag von Kulturtouristen überrannt, Moldawien von Weinbegeisterten überflutet und Odessa wie Mallorca von Partytouristen übervölkert wird.

Osteuropa 2007 3. Teil

Guten Tag aus Chisinau!

Mit der Ankunft in Czernowitz traf ich wieder auf alte Bekannte: Kopfsteinpflaster en masse! Anders als L’viv liegt die Stadt nicht in einem Kessel sondern hoch oben auf einem Hügel. Die Ukraine macht es mir einfach nicht einfach – nach einem Radeltag noch zirka 5 Kilometer zum Hotel auf wenigstens dieses Mal diagonal angelegten Pflastersteinen bei 10 Prozent Steigung durchgeschüttelt zu werden ist wahrlich kein Vergnügen.

Aber auch diese Stadt hat es wirklich verdient, besucht zu werden. Wieder eine Großstadt in der Ukraine – die ich mir so total anders vorgestellt hatte. Auch hier ist wieder alles tipp topp sauber und fertig restauriert. Irgendwie hatte ich in diesem Land heruntergekommene triste Städte erwartet, die vielleicht ein paar Straßenzüge mit hübschen Gebäuden aufweisen. Nein – getäuscht und verwundert! Die Universität besteht sogar aus Backsteinen und hanseatischer Architektur mit diesem stufenartigen Dachkonstruktionen wie bspw. in Lübeck. 

Am nächsten Tag ließ ich den Drahtesel mal stehen und machte einen Busausflug. In der Busstation gab es verschiedene Bahnsteige mit den täglich existierenden Verbindungen. Es war wieder alles in kyrillisch aber dafür sehr akkurat verfasst. Und natürlich fuhr der Bus nach dem Fahrplan pünktlich ab. Mit dem arg betagten Vehikel, das so ca. 40 Kilometer pro Stunde zurücklegte, war ich nur etwa doppelt so schnell wie mit dem Rad unterwegs, da auch der Busfahrer bei den vielen Berg- und Talfahrten nicht einfach mal beim hinabrollen Anlauf nehmen konnte. Schließlich war die Strasse zu verformt und der Fahrer wollte keinen Achsenbruch riskieren. So krochen wir mit zum Teil 20 km/h die Strasse nach der Abfahrt wieder hinauf. Die Abgaswolke war rabenschwarz und ich erinnerte mich gern an die Karpaten zurück, in denen ich meine Lungen aufgrund des nicht vorhandenen Schwerverkehrs einer Frischluft-Kur unterziehen konnte. 

„Geiz ist geil“ gilt auch in der Ukraine. Zwar gibt es noch keine Billigflieger, dafür aber Billig-Benzin mit 80 Oktan (in Deutschland mind. 92 Oktan) für unschlagbare 50 Euro-Cent. Dass dieses Zeug nicht gut für den Motor ist, zeigen die vielen stehen gebliebenen Ladas und die vielen arg knatternden Kisten, die jeden Moment zu explodieren scheinen. Beim Radeln bin ich immer froh, wenn diese Kisten nicht direkt neben mir umschalten und ich danach durch die Russwolke wie ein Kumpel aus dem Ruhrpott aussehe.

Mittlerweile kam ich auch in den historischen Einflussbereich der Türken, was ich in Kamyanets-Podilsky, dem Ziel meines Busausflugs bemerken konnte. Die Stadt war erst polnisch, und es entstanden Kirchen. Dann kamen die Türken, ließen die Kirchen stehen unter der Bedingung ein höheres Minarett als den höchsten Kirchturm zu bauen. Als die Türken vertrieben wurden, zeigten sich die Polen pragmatisch und bauten einfach auf das Minarett eine Marienstatue drauf. Das ganze sieht zwar etwas gewöhungsbedürftig aus – aber wenigstens wurde hier mal nicht alles beim Wechsel des Besitzers kurz und klein geschlagen. 

Eigentlich wollte ich noch ein wenig den Ort besichtigen, der auf einem Felsen in dramatisch anmutender Lage über einem Fluss errichtet wurde. Aber leider zog wieder ein großes Gewitter auf und ich verzog mich ins Restaurant. Dann gab es einen stadtweiten Stromausfall der sogar die Ampeln lahm legte. Die Strassen waren von dem Platzregen überflutet und jeder fuhr kreuz und quer durch die braunen Fluten. Dies erinnerte mich ein wenig an einen Platzregen in Dar-es-Salaam, Tansania und irgendwie kam ich mir nicht mehr wie in Europa vor. 

Schließlich wurde das Wetter wieder besser, ich nahm den nächsten Bus zurück nach Czernowitz und am folgenden Sonntag radelte ich endlich mal auf vertrauenswürdiger Berg- und Talstraße in Richtung rumänischer Grenze. Abschließend kann ich über die Ukraine nur staunen. Man bekommt hier ein Leben zwischen Vergangenheit und Zukunft mit. Das Land besteht fast nur aus Kirchen – und das in einem 40 Jahre von Kommunisten beherrschten Land. Auf meinen Streifzügen durch verschiedene Städte wurde ich immer von singenden Chören begleitet, deren Stimmen bis auf die Strasse zu hören waren. Das Land hat mit die schönsten Städte des Kontinents, die von großen Zerstörungen in den Weltkriegen weitgehend verschont wurden und mit ihrer Liebe zu Ostereiern wohl auch das einzige Ostereiermuseum auf Erden. Das Essen ist lecker, vielleicht nichts für große Gourmets, aber sogar als Vegetarier würde man hier nicht verhungern. Die angenehm zurückhaltende Art dieses Völkchen trägt mit dazu bei, dass man sich hier vom Alltag erholen kann. 

Und an der Grenze gab es keinen Stress. Stempel rein, Pass zu – rüber zu den Rumänen – Pass angucken und in 5 Minuten hatte ich die Grenze passiert, sowie 505 Radelkilometer im größten Land Europas hinter mich gebracht. Das nahezu grenzenlose Europa ist mittlerweile nun auch im tiefen Osten des Kontinents angekommen. Willkommen geheißen wurde ich in Rumänien in jeder Stadt mit Europafahnen an jeder Straßenlaterne. Ganz große Fans des transatlantischen Bündnisses hissten am Ortseingang sogar die NATO-Fahne. In der EU angekommen konnte ich endlich auf einer makellosen Platanen-Allee gen Süden meinem Etappenziel Suceava in der südlichen Bukovina entgegenrollen.

Bukovina heißt soviel wie Buchenland und gehörte auch früher zum Reich der Habsburger. Vorher und nachher gehörte der Süden zu Rumänien, während die Sowjets sich 1940 den Norden um Czernowitz unter den Nagel rissen und dieser nun zur Ukraine zählt. Weltberühmt ist die südliche Bukovina für ihre Kloester, die eher Burgen ähneln, die die damaligen Nonnen und Mönche vor den Türken schützen sollte. Da im 16. Jhdt. einerseits die Bibel nur in lateinischer Sprache erhältlich war und andererseits sowieso die meisten Bewohner Analphabeten waren, wurden die Kloester innen und außen mit Fresken im byzantinischem Stil als eine Art Bibel-Comic verziert. Auf wundersame Weise sind bis heute noch viele Fresken auf den Außenseiten sehr gut erhalten. Die Kloester sehen aus, als wären sie mit riesigen Tatoos verziert worden. In der Zeit der Habsburger durften die Nonnen und Mönche die Kloester nicht mehr nutzen, da sie orthodox und nicht katholisch waren. Die Kommunisten ließen dieses Verbot bestehen, so dass erst wieder seit 1990 die Kloester von Ordensleuten genutzt werden. 

Auf der Fahrt durch das EU-Rumänien des Jahres 2007 kam ich mir vor, wie bei uns vielleicht vor 50 Jahren. Die Nebenstrassen wurden durchweg eigentlich hauptsächlich von Kutschen und Fuhrwerken genutzt. In jedem Dorf gab es einen Zieh- oder Kurbelbrunnen. Lediglich die Verordnung, dass die hölzernen Wägelchen ein Kennzeichen brauchten und die Kutscher eine fluoreszierende Weste, erinnerten mich wieder an die Gegenwart. Allerdings war es bei den Nummernschildern wohl egal, was darauf stand, denn viele waren alte bundesdeutsche Überführungskennzeichen, ungarische Schilder oder selbst gemalte Bleche mit dem Namen des Dorfes und einer Nummer drauf. Das Radeln auf diesen Nebenstrassen war immer sehr beschaulich und sehr erholsam. Allerdings sind rumänische Nebenstrassen manches Mal überhaupt nicht asphaltiert und das Radeln auf einer Staubstrasse ist dann allerdings gar nicht mehr so beschaulich. Da macht das Entlangrollen auf den Fernstrassen des Landes wieder mehr Spaß, vor allem weil es einen äußerst breiten Seitenstreifen gibt – hauptsächlich für die Gespanne der Vierbeiner gedacht. 

Überraschten mich die ukrainischen Städte positiv, taten dies die rumänischen eher im umgekehrten Sinne. Gut, ich war von früheren Reisen durch dieses wirklich schöne Land von Perlen wie Brasov und Sighisoara auch verwöhnt, aber Suceava und später Iasi sind halt hauptsächlich im pragmatisch-nüchternen Nachkriegsbauwahn (wieder)errichtet worden. Die Betonblocks sehen einfach potthässlich aus und die wenigen schönen Kirchen und Gebäude können dies nicht ausgleichen. Allerdings entschädigen die vielen Parks wenigstens etwas für die architektonischen Gräueltaten der Ceaucescu-Ära. 

Allerdings befindet sich Rumänen in der Frühstückkultur-Evolution schon auf einer höheren Entwicklungsstufe als die Ukraine. Ich bekam morgens wenigstens schon einmal im Straßenverkauf Backwaren und Croissants. Gut Kaffee dazu zu fordern, war natürlich überzogen, denn es würde sich dann ja schon die dritte Stufe handeln. Daher aß ich die Teilchen anschließend im Park ehe ich im Hotel am Automaten mir einen Dalmayr-Kaffee hinterzog. Dass ich eine rumänische Großstadt erreiche, merkte ich immer an den Hinweisen für die großen Supermärkte wie METRO, die langsam auch hier die Tante Emma Läden verdrängen. Die Speisekarte wird dafür immer mehr von Pasta und Pizza dominiert. Ob dies daran liegt, dass halb Rumänien bei den Italienern schafft, weiß ich nicht. Denn 99 Prozent der ausländischen Autos stammten in Rumänien aus dem Land des amtierenden Weltmeisters. 

Die Aufnahme in die EU hat wohl in Rumänien zu einem rapiden Preisanstieg geführt, denn im Vergleich zu meinem letzten Besuch vor vier Jahren, ist dies gar nicht mehr das preisgünstiges Paradies. Die Löhne sind allerdings in diesem Zeitraum sicherlich nicht so explodiert. Da frage ich mich, wie die Einheimischen überhaupt noch überleben können. Zum Vergleich: Ein Lehrer bekommt ca. 80 Euro im Monat – eine 1-Zimmer-Wohnung kostet 105 Euro monatlich, wie mir die Hostel-Besitzerin Monika erklärte. Klar, dass sie lieber mit ihren Englisch-Kenntnissen ein Hostel führt, als ihr Wissen den Kids zu vermitteln. Nur wie das alles auf Dauer funktionieren soll, würde ich gerne mal wissen…

Die bisher längste Etappe der Tour stand mir in Iasi bevor. Eigentlich wollte ich früh losfahren, aber die freundlichen Hotelbesitzer, die einigermaßen Englisch sprachen, fragten mich woher ich kam. „Mainz, near Frankfurt“. „Yeah we know Mainz – football!“ Hm, eigentlich wollte ich auf dieser Tour auch ein wenig den Abstieg verkraften, aber jetzt erzählten mir die Jungs, die übrigens Bayern-Fans sind, dass Mainz ja eigentlich oft gut gespielt hat, aber am Ende doch abgestiegen ist… Dafür ist ihr zweiter Lieblingsclub Dinamo Bukarest Meister geworden. Glückwunsch Dinamo – aber kann ich jetzt bitte meine „Trauer“ verarbeiten und losfahren? „We must drink Palinca!“ Dieses 60-prozentige Zeug auf die Meisterschaft von Dynamo zu trinken, vor einer langen Radtour, ist sicherlich die suboptimale Vorbereitung überhaupt. Aber was soll den freundlichen Fußballfans denn antworten? Runter mit dem Zeug und zum Ausgleich machten sie mir noch einen Rosts-Beef-Sandwich. Auf dem Zimmer leerte ich noch schnell eine Liter Flasche Mineralwasser und los ging’s. 

Rumänische Strassen haben immer eins gemeinsam. Sie zeigen Konstanz. Sind sie erstmal einmal schlecht, dann bleiben sie es auch die nächsten vielen Kilometer. Umgekehrt gilt zwar dasselbe, doch das ist mir natürlich dann egal, wenn ich auf einem aus kleinen Steinchen zusammengehaltenen Asphalt unterwegs bin und mir die Steinchen bei jedem Gegenverkehr bis ins Gesicht fliegen. Wenigstens war die Landschaft wieder sehr beeindruckend. Ich kam mir eher wie im wilden Westen als wie in Europa vor. Überall weideten Pferde und Kühe auf der kargen hochebenenartigen Landschaft auf nahezu Meeresspiegel gelegen. Die Sonne brannte vom Himmel und weichte den Teer auf, so dass dieser an den Reifen zu kleben schien und ich immer schwerer vom Fleck kam. Eigentlich hatte ich vor, nach ca. 70 Kilometer am Grenzposten zur Republik Moldau, eine ausgiebige Essenspause zu machen. Aber es gab nur eine Tankstelle mit Sandwichs. Ich hoffte mit diesem Weisbrotgedöns die notwendigen Kalorien wieder zu bekommen und fuhr zur Grenze. Nach 300 rumänischen Radel-Kilometern war dann Schluss mit diesem trotz der hässlichen Städte sehr schönen Land. Als Eu-Bürger ging es bei den Rumänen wieder in Windeseile durch die Kontrolle und ich fuhr über den Grenzfluss Prut, dessen Quelle ich eine Woche zuvor, bei der Besteigung des höchsten Bergs der Ukraine. Bei einem Vorkontrollposten stoppte ich und wurde sehr höflich begrüßt. Mittels Funkgerät wurde ich bei den Grenzbeamten angemeldet. Ich verstand nur das Wort „Tourist“. 

Als ich die Autoschlange vor dem Kontrollposten sah, machte ich mich auf eine lange Warterei gefasst, doch die Schirmmützen winkten mich gleich nach vorne, nahmen den Pass mit ins Häuschen, stempelten diesen sofort und schon war ich offiziell in die Republik Moldau eingereist. Bis zum 31. Dezember 2006 hätte ich für dieses Land noch ein Visum beantragen müssen. Jetzt hätte ich mit allem gerechnet aber nicht so dermaßen zuvorkommend und nett behandelt zu werden. Die gesamte Autoschlange bestand aus den neuesten Karossen aus München und Stuttgart mit den entsprechenden gestylten Damen und den mit dickem Bauch und Portemonnaie ausgestatteten Herren drinnen. Hm, ich reiste gerade in das dem Pro-Kopf-Einkommen nach ärmste Land Europas ein und ich traf nur auf Jet-Set-Genossen, aus dem wahrscheinlich einzigen demokratischen und gleichzeitig von Kommunisten regierten Lands Europas. Aber wenn der Präsident Voronin heißt, dann wird ein Land einem als 05-Fan natürlich gleich sehr sympathisch!