Osteuropa 2007 3. Teil

Guten Tag aus Chisinau!

Mit der Ankunft in Czernowitz traf ich wieder auf alte Bekannte: Kopfsteinpflaster en masse! Anders als L’viv liegt die Stadt nicht in einem Kessel sondern hoch oben auf einem Hügel. Die Ukraine macht es mir einfach nicht einfach – nach einem Radeltag noch zirka 5 Kilometer zum Hotel auf wenigstens dieses Mal diagonal angelegten Pflastersteinen bei 10 Prozent Steigung durchgeschüttelt zu werden ist wahrlich kein Vergnügen.

Aber auch diese Stadt hat es wirklich verdient, besucht zu werden. Wieder eine Großstadt in der Ukraine – die ich mir so total anders vorgestellt hatte. Auch hier ist wieder alles tipp topp sauber und fertig restauriert. Irgendwie hatte ich in diesem Land heruntergekommene triste Städte erwartet, die vielleicht ein paar Straßenzüge mit hübschen Gebäuden aufweisen. Nein – getäuscht und verwundert! Die Universität besteht sogar aus Backsteinen und hanseatischer Architektur mit diesem stufenartigen Dachkonstruktionen wie bspw. in Lübeck. 

Am nächsten Tag ließ ich den Drahtesel mal stehen und machte einen Busausflug. In der Busstation gab es verschiedene Bahnsteige mit den täglich existierenden Verbindungen. Es war wieder alles in kyrillisch aber dafür sehr akkurat verfasst. Und natürlich fuhr der Bus nach dem Fahrplan pünktlich ab. Mit dem arg betagten Vehikel, das so ca. 40 Kilometer pro Stunde zurücklegte, war ich nur etwa doppelt so schnell wie mit dem Rad unterwegs, da auch der Busfahrer bei den vielen Berg- und Talfahrten nicht einfach mal beim hinabrollen Anlauf nehmen konnte. Schließlich war die Strasse zu verformt und der Fahrer wollte keinen Achsenbruch riskieren. So krochen wir mit zum Teil 20 km/h die Strasse nach der Abfahrt wieder hinauf. Die Abgaswolke war rabenschwarz und ich erinnerte mich gern an die Karpaten zurück, in denen ich meine Lungen aufgrund des nicht vorhandenen Schwerverkehrs einer Frischluft-Kur unterziehen konnte. 

„Geiz ist geil“ gilt auch in der Ukraine. Zwar gibt es noch keine Billigflieger, dafür aber Billig-Benzin mit 80 Oktan (in Deutschland mind. 92 Oktan) für unschlagbare 50 Euro-Cent. Dass dieses Zeug nicht gut für den Motor ist, zeigen die vielen stehen gebliebenen Ladas und die vielen arg knatternden Kisten, die jeden Moment zu explodieren scheinen. Beim Radeln bin ich immer froh, wenn diese Kisten nicht direkt neben mir umschalten und ich danach durch die Russwolke wie ein Kumpel aus dem Ruhrpott aussehe.

Mittlerweile kam ich auch in den historischen Einflussbereich der Türken, was ich in Kamyanets-Podilsky, dem Ziel meines Busausflugs bemerken konnte. Die Stadt war erst polnisch, und es entstanden Kirchen. Dann kamen die Türken, ließen die Kirchen stehen unter der Bedingung ein höheres Minarett als den höchsten Kirchturm zu bauen. Als die Türken vertrieben wurden, zeigten sich die Polen pragmatisch und bauten einfach auf das Minarett eine Marienstatue drauf. Das ganze sieht zwar etwas gewöhungsbedürftig aus – aber wenigstens wurde hier mal nicht alles beim Wechsel des Besitzers kurz und klein geschlagen. 

Eigentlich wollte ich noch ein wenig den Ort besichtigen, der auf einem Felsen in dramatisch anmutender Lage über einem Fluss errichtet wurde. Aber leider zog wieder ein großes Gewitter auf und ich verzog mich ins Restaurant. Dann gab es einen stadtweiten Stromausfall der sogar die Ampeln lahm legte. Die Strassen waren von dem Platzregen überflutet und jeder fuhr kreuz und quer durch die braunen Fluten. Dies erinnerte mich ein wenig an einen Platzregen in Dar-es-Salaam, Tansania und irgendwie kam ich mir nicht mehr wie in Europa vor. 

Schließlich wurde das Wetter wieder besser, ich nahm den nächsten Bus zurück nach Czernowitz und am folgenden Sonntag radelte ich endlich mal auf vertrauenswürdiger Berg- und Talstraße in Richtung rumänischer Grenze. Abschließend kann ich über die Ukraine nur staunen. Man bekommt hier ein Leben zwischen Vergangenheit und Zukunft mit. Das Land besteht fast nur aus Kirchen – und das in einem 40 Jahre von Kommunisten beherrschten Land. Auf meinen Streifzügen durch verschiedene Städte wurde ich immer von singenden Chören begleitet, deren Stimmen bis auf die Strasse zu hören waren. Das Land hat mit die schönsten Städte des Kontinents, die von großen Zerstörungen in den Weltkriegen weitgehend verschont wurden und mit ihrer Liebe zu Ostereiern wohl auch das einzige Ostereiermuseum auf Erden. Das Essen ist lecker, vielleicht nichts für große Gourmets, aber sogar als Vegetarier würde man hier nicht verhungern. Die angenehm zurückhaltende Art dieses Völkchen trägt mit dazu bei, dass man sich hier vom Alltag erholen kann. 

Und an der Grenze gab es keinen Stress. Stempel rein, Pass zu – rüber zu den Rumänen – Pass angucken und in 5 Minuten hatte ich die Grenze passiert, sowie 505 Radelkilometer im größten Land Europas hinter mich gebracht. Das nahezu grenzenlose Europa ist mittlerweile nun auch im tiefen Osten des Kontinents angekommen. Willkommen geheißen wurde ich in Rumänien in jeder Stadt mit Europafahnen an jeder Straßenlaterne. Ganz große Fans des transatlantischen Bündnisses hissten am Ortseingang sogar die NATO-Fahne. In der EU angekommen konnte ich endlich auf einer makellosen Platanen-Allee gen Süden meinem Etappenziel Suceava in der südlichen Bukovina entgegenrollen.

Bukovina heißt soviel wie Buchenland und gehörte auch früher zum Reich der Habsburger. Vorher und nachher gehörte der Süden zu Rumänien, während die Sowjets sich 1940 den Norden um Czernowitz unter den Nagel rissen und dieser nun zur Ukraine zählt. Weltberühmt ist die südliche Bukovina für ihre Kloester, die eher Burgen ähneln, die die damaligen Nonnen und Mönche vor den Türken schützen sollte. Da im 16. Jhdt. einerseits die Bibel nur in lateinischer Sprache erhältlich war und andererseits sowieso die meisten Bewohner Analphabeten waren, wurden die Kloester innen und außen mit Fresken im byzantinischem Stil als eine Art Bibel-Comic verziert. Auf wundersame Weise sind bis heute noch viele Fresken auf den Außenseiten sehr gut erhalten. Die Kloester sehen aus, als wären sie mit riesigen Tatoos verziert worden. In der Zeit der Habsburger durften die Nonnen und Mönche die Kloester nicht mehr nutzen, da sie orthodox und nicht katholisch waren. Die Kommunisten ließen dieses Verbot bestehen, so dass erst wieder seit 1990 die Kloester von Ordensleuten genutzt werden. 

Auf der Fahrt durch das EU-Rumänien des Jahres 2007 kam ich mir vor, wie bei uns vielleicht vor 50 Jahren. Die Nebenstrassen wurden durchweg eigentlich hauptsächlich von Kutschen und Fuhrwerken genutzt. In jedem Dorf gab es einen Zieh- oder Kurbelbrunnen. Lediglich die Verordnung, dass die hölzernen Wägelchen ein Kennzeichen brauchten und die Kutscher eine fluoreszierende Weste, erinnerten mich wieder an die Gegenwart. Allerdings war es bei den Nummernschildern wohl egal, was darauf stand, denn viele waren alte bundesdeutsche Überführungskennzeichen, ungarische Schilder oder selbst gemalte Bleche mit dem Namen des Dorfes und einer Nummer drauf. Das Radeln auf diesen Nebenstrassen war immer sehr beschaulich und sehr erholsam. Allerdings sind rumänische Nebenstrassen manches Mal überhaupt nicht asphaltiert und das Radeln auf einer Staubstrasse ist dann allerdings gar nicht mehr so beschaulich. Da macht das Entlangrollen auf den Fernstrassen des Landes wieder mehr Spaß, vor allem weil es einen äußerst breiten Seitenstreifen gibt – hauptsächlich für die Gespanne der Vierbeiner gedacht. 

Überraschten mich die ukrainischen Städte positiv, taten dies die rumänischen eher im umgekehrten Sinne. Gut, ich war von früheren Reisen durch dieses wirklich schöne Land von Perlen wie Brasov und Sighisoara auch verwöhnt, aber Suceava und später Iasi sind halt hauptsächlich im pragmatisch-nüchternen Nachkriegsbauwahn (wieder)errichtet worden. Die Betonblocks sehen einfach potthässlich aus und die wenigen schönen Kirchen und Gebäude können dies nicht ausgleichen. Allerdings entschädigen die vielen Parks wenigstens etwas für die architektonischen Gräueltaten der Ceaucescu-Ära. 

Allerdings befindet sich Rumänen in der Frühstückkultur-Evolution schon auf einer höheren Entwicklungsstufe als die Ukraine. Ich bekam morgens wenigstens schon einmal im Straßenverkauf Backwaren und Croissants. Gut Kaffee dazu zu fordern, war natürlich überzogen, denn es würde sich dann ja schon die dritte Stufe handeln. Daher aß ich die Teilchen anschließend im Park ehe ich im Hotel am Automaten mir einen Dalmayr-Kaffee hinterzog. Dass ich eine rumänische Großstadt erreiche, merkte ich immer an den Hinweisen für die großen Supermärkte wie METRO, die langsam auch hier die Tante Emma Läden verdrängen. Die Speisekarte wird dafür immer mehr von Pasta und Pizza dominiert. Ob dies daran liegt, dass halb Rumänien bei den Italienern schafft, weiß ich nicht. Denn 99 Prozent der ausländischen Autos stammten in Rumänien aus dem Land des amtierenden Weltmeisters. 

Die Aufnahme in die EU hat wohl in Rumänien zu einem rapiden Preisanstieg geführt, denn im Vergleich zu meinem letzten Besuch vor vier Jahren, ist dies gar nicht mehr das preisgünstiges Paradies. Die Löhne sind allerdings in diesem Zeitraum sicherlich nicht so explodiert. Da frage ich mich, wie die Einheimischen überhaupt noch überleben können. Zum Vergleich: Ein Lehrer bekommt ca. 80 Euro im Monat – eine 1-Zimmer-Wohnung kostet 105 Euro monatlich, wie mir die Hostel-Besitzerin Monika erklärte. Klar, dass sie lieber mit ihren Englisch-Kenntnissen ein Hostel führt, als ihr Wissen den Kids zu vermitteln. Nur wie das alles auf Dauer funktionieren soll, würde ich gerne mal wissen…

Die bisher längste Etappe der Tour stand mir in Iasi bevor. Eigentlich wollte ich früh losfahren, aber die freundlichen Hotelbesitzer, die einigermaßen Englisch sprachen, fragten mich woher ich kam. „Mainz, near Frankfurt“. „Yeah we know Mainz – football!“ Hm, eigentlich wollte ich auf dieser Tour auch ein wenig den Abstieg verkraften, aber jetzt erzählten mir die Jungs, die übrigens Bayern-Fans sind, dass Mainz ja eigentlich oft gut gespielt hat, aber am Ende doch abgestiegen ist… Dafür ist ihr zweiter Lieblingsclub Dinamo Bukarest Meister geworden. Glückwunsch Dinamo – aber kann ich jetzt bitte meine „Trauer“ verarbeiten und losfahren? „We must drink Palinca!“ Dieses 60-prozentige Zeug auf die Meisterschaft von Dynamo zu trinken, vor einer langen Radtour, ist sicherlich die suboptimale Vorbereitung überhaupt. Aber was soll den freundlichen Fußballfans denn antworten? Runter mit dem Zeug und zum Ausgleich machten sie mir noch einen Rosts-Beef-Sandwich. Auf dem Zimmer leerte ich noch schnell eine Liter Flasche Mineralwasser und los ging’s. 

Rumänische Strassen haben immer eins gemeinsam. Sie zeigen Konstanz. Sind sie erstmal einmal schlecht, dann bleiben sie es auch die nächsten vielen Kilometer. Umgekehrt gilt zwar dasselbe, doch das ist mir natürlich dann egal, wenn ich auf einem aus kleinen Steinchen zusammengehaltenen Asphalt unterwegs bin und mir die Steinchen bei jedem Gegenverkehr bis ins Gesicht fliegen. Wenigstens war die Landschaft wieder sehr beeindruckend. Ich kam mir eher wie im wilden Westen als wie in Europa vor. Überall weideten Pferde und Kühe auf der kargen hochebenenartigen Landschaft auf nahezu Meeresspiegel gelegen. Die Sonne brannte vom Himmel und weichte den Teer auf, so dass dieser an den Reifen zu kleben schien und ich immer schwerer vom Fleck kam. Eigentlich hatte ich vor, nach ca. 70 Kilometer am Grenzposten zur Republik Moldau, eine ausgiebige Essenspause zu machen. Aber es gab nur eine Tankstelle mit Sandwichs. Ich hoffte mit diesem Weisbrotgedöns die notwendigen Kalorien wieder zu bekommen und fuhr zur Grenze. Nach 300 rumänischen Radel-Kilometern war dann Schluss mit diesem trotz der hässlichen Städte sehr schönen Land. Als Eu-Bürger ging es bei den Rumänen wieder in Windeseile durch die Kontrolle und ich fuhr über den Grenzfluss Prut, dessen Quelle ich eine Woche zuvor, bei der Besteigung des höchsten Bergs der Ukraine. Bei einem Vorkontrollposten stoppte ich und wurde sehr höflich begrüßt. Mittels Funkgerät wurde ich bei den Grenzbeamten angemeldet. Ich verstand nur das Wort „Tourist“. 

Als ich die Autoschlange vor dem Kontrollposten sah, machte ich mich auf eine lange Warterei gefasst, doch die Schirmmützen winkten mich gleich nach vorne, nahmen den Pass mit ins Häuschen, stempelten diesen sofort und schon war ich offiziell in die Republik Moldau eingereist. Bis zum 31. Dezember 2006 hätte ich für dieses Land noch ein Visum beantragen müssen. Jetzt hätte ich mit allem gerechnet aber nicht so dermaßen zuvorkommend und nett behandelt zu werden. Die gesamte Autoschlange bestand aus den neuesten Karossen aus München und Stuttgart mit den entsprechenden gestylten Damen und den mit dickem Bauch und Portemonnaie ausgestatteten Herren drinnen. Hm, ich reiste gerade in das dem Pro-Kopf-Einkommen nach ärmste Land Europas ein und ich traf nur auf Jet-Set-Genossen, aus dem wahrscheinlich einzigen demokratischen und gleichzeitig von Kommunisten regierten Lands Europas. Aber wenn der Präsident Voronin heißt, dann wird ein Land einem als 05-Fan natürlich gleich sehr sympathisch!